Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

74 Das deutsche Reich und seine elnzelnen Glieder. (März 7 -- 8.) 
Volkserziehung und Volksbildung zu erwarten, namentlich in  Gegenden, wo 
die Bevölkerung absichtlich unmündig gehalten worden. Mit Recht rede man 
vom Culturkampf: das Königthum verträgt Volksbildung, das Priesterthum 
geht daran zu Grunde. 
7. März. (Deutschland.) Die hervorragendsten Führer beider 
Richtungen der deutschen Socialdemokratie (der Berliner und der 
Eisenacher) erlassen einen gemeinsamen Aufruf an die Parteigenossen, 
worin zu einem am 23.—25. Mai in Mitteldeutschland behufs Aus- 
gleichung der bieherigen Spaltung und Verschmelzung beider Rich- 
tungen zu einer großen Partei zu veranstaltenden allgemeinen Con- 
greß eingeladen wird, und zugleich ein Programm, welches die Fun- 
damentalsätze der Partei enthält, und einen Organisationsplan. 
8. März. (Bayern.) II. Kammer: Zweite Berathung des 
Militärbeamten-Gesetzes. Nur drei Ultramontane entziehen sich der 
Disciplin des ultramontanen Parteiklubs und stimmen mit der libe- 
ralen Seite des Hauses; der Entwurf wird daher nur mit 76 gegen 
67 Stimmen genehmigt, hat also die Zweidrittelmehrheit als Ver- 
fassungsgesetz nicht erhalten und gilt demnach für verworfen. 
Die Taktik der ultramontanen Partei erscheint damit als eine sehr 
kurzsichtige. Schon in der Debatte eröffnet Marquardsen den sog. Patrioten 
die Aussicht, daß, wenn sie das Gesetz verwerfen würden, eine weitere Instanz, 
der unzweifelhaft competente Reichstag, es dann erlassen werde, und Völk 
ruft ihnen nochmals vor der Abstimmung zu: „Verwerfen können Sie das 
Gesetz, gemacht wird es aber doch!“ Denn was die Patrioten von ihrem 
Standpunkt aus mit Recht auf das Aeußerste perhorresciren und was auch 
der liberalen Partei im Princip nicht unbedingt angenehm sein kann: die 
Einmischung des Reichs in die bayerische Gesetzgebung ist damit zu einer 
Nothwendigkeit geworden. Die Versailler Verträge stipuliren auch in dieser 
Beziehung die vollste Gleichmäßigkeit zwischen den Einrichtungen des eigent- 
lichen Reichsheeres und jenen der bayerischen Armee, nur daß die Herbei- 
führung   dieser Gleichmäßigkeit der bayerischen Regierung überlassen geblieben 
ist. Die rechte Seite der bayerischen Kammer hat dem Ministerium diese 
Ausführung einer vertragsmäßigen Bestimmung unmöglich gemacht; jetzt 
werden naturgemäß die Reichsfaktoren in das Spiel gezogen werden. Ent- 
weder sieht sich der König von Bayern veranlaßt, die Reichsgesetzgebung über 
diese Materie im Bundesrath selbst zu veranlassen, oder die bayerischen libe- 
ralen Reichstagsmitglieder stellen ihrerseits in der nächsten Reichstagssession 
einen solchen Antrag. An der betreffenden Competenz der Reichsgesetzgebung 
aber kann kein Zweifel sein, da es sich hier nicht um ein Reservatrecht han- 
delt, und gegenüber den widersprechenden Bestimmungen der bayerischen Ver- 
fassung gilt dann eben der in der Reichsverfassung ausdrücklich niedergelegte 
principielle Satz: „Reichsrecht bricht Landesrecht“. 
8. März. (Württemberg.) Eine kgl. Verordnung setzt die 
Einführung der neuen Markrechnung auf den 1. Juli 1875 an. Es 
bleibt dann nur noch Bayern, wo sie erst am 1. Januar 1876 in 
Kraft treten wird.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.