Full text: Europäischer Geschichtskalender. Siebzehnter Jahrgang. 1876. (17)

44 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 19.) 
Das Bild. welches derjelbe hiebei von der Lege der preußischen Fi= 
nanzen entwirft, ist viel weniger trübe, als man nach den düsteren Schilde- 
rungen. die seit längerer Zeit im Schwange waren. hätte erwarten müssen. 
Nach den Ausführungen des Finanzministers schließt das Jahr 1875 nicht 
allein ohne Deficit, sondern mit einem. wenn auch geringen Ueberschusse  ab. 
Das ist in der That mehr, als man zu hoffen berechtigt war. Es zeigt sich 
darin wieder die außerordentlich Elasticität des preußischen Staatshaushalts- 
Etats, welche darauf beruht, daß der in einen Zweige der Finanzverwaltung 
entstehende Ausfall gewöhnlich durch ein Plus in einem anderen Zweige 
ausgeglichen wird. So steht im Jahrr 1—75 einer Mindereinnahme von 
etwa 6 Millionen Mark bei den Eisenbahnen eine Mehreinnahme von eben- 
falls 6 Millionen Mark bei den Forsten. dem Ausfall an Stempelsteuer im 
Betrage von 2¼ Millionen Mark ein Ueberschuß in der Bergwerksverwal- 
tung von über 1 Million Mark gegenüber. Trotz niedriger Einnahmen 
aber sind die dauernden Ausgaben für 1875 noch um etwa 5 Millionen, 
die vorzugsweise dem Etat des Cultus-Ministers zu Gute kommen, erhöht 
worden. Ermõglicht ist dies dadurch. daß das Ertragordinarium um rund 
48 Millionen niedriger angesetzt ist, als im Vorjahrr. Diese höchst beträcht- 
liche Reduction, welche vorwiegend auf den Etat für Handel, Gewerbe 
und Bauwesen fällt. erregt einiges Bedenken; es scheint aber, als ob in der 
Verwaltung der Extraordinarien ein ähnlicher. Zustand eingetreten sei, wie 
in der Reichs-Marineverwaltung, daß nämlich die bewilligten großen Sum- 
men nicht haben aufgebraucht werden können. 
— Januar. (Deutsches Reich.) Es unterliegt bereits keinem 
Zweifel mehr, daß der Gedanke, sämmtliche Eisenbahnen für das 
Reich anzukaufen, bei Bayern, Württemberg, Baden, Hessen und 
Sachsen auf entschiedenen Wiederstand stößt. Die Bevölkerung in 
diesen Staaten hat zwar wenig Vorliebe für Privatbahnen, gibt 
aber den Staatsbahnen vor den Reichsbahnen den Vorzug. Da 
nun eine Majorisirung der Mittelstaaten durch die Verfassung aus- 
geschlossen ist, so kann es sich nur noch um die Frage handeln, ob 
für einen Theil von Norddeutschland, nämlich für Preußen nebst 
einigen Kleinstaaten mit zusammen etwa 2 Millionen Einwohnern, 
die Eisenbahnen vom Reich zu übernehmen sind. Auch in dieser 
Begrenzung würde zunächst nur die Erwerbung der Staatsbahnen 
durch das Reich in Frage kommen. Staatsbahnen besitzt aber in 
diesem Theil Deutschlands außer Oldenburg nur Preußen. Aus- 
führbar ist die Uebertragung der preußischen Staatsbahnen auf das 
Reich gewiß. Der preußische Finanzminister kann auch nur wün- 
schen, die Staatsbahnen baldmöglichst los zu werden, denn ihre 
Rentabilität ist abnehmend und der Eisenbahnetat beginnt dieselbe 
Rolle in der preußischen Finanzverwaltung zu übernehmen, welche 
früher der Militäretat hatte. 
19. Januar. (Deutsches Reich.) Wiederzusammentritt des 
Reichstags.
	        
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