Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 27.) 49
sog. Sozialisten-Paragraph, wird fast einstimmig abgelehnt. Der-
selbe lautet:
.„Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschie-
dene Klassen der Bevölkerung gegen einander öffentlich aufreizt oder wer in
gleicher Weise die Institute der Ehe, der Familie oder des Eigenthums öf-
fentlich durch Rede oder Schrift angreift, wird mit Gefängniß bestraft.“
der bisherigen Fassung lautet der Paragraph: „Wer in einer den öf-
fentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung
zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe
bis zu 200 Thalern oder mit Gefängniß bis zu 2 Jahren bestraft“.) —
Bundesbevollmächtigter Graf zu Eulen burg: Der der Debatte vorliegende
Paragraph richtet sich gegen die Socialdemokratie. Was diese will. welche
Bestrebungen und welche Erfolge sie hat, will ich kurz auseinandersetzen und
zwar an dieser Stelle, weil ich befürchte, daß, so viel von diesem Thema ge-
sprochen und darüber geschrieben wirt doch verhältnißmäßig Wenige sich
ein richtiges Bild von den bestehenden Zuständen machen, und werde Sie
zum Schluß bitten, dem Staate die Waffen zu geben, welche er gegen diese
feindliche Tendenz gebraucht. Bis zu dem vorigen Jahre bestanden zwei
socialistische Verbände, in Norddeutschland der allgemeine deutsche urbeiter-
verein, 1863 von Lassalle gegründet, eine Zeit lang von Herrn Schweizer,
später von Hasenclever präsidirt, in Süddeutschland der demokratische Ar-
beiterverein. Sehr weit auseinander in ihren Anschauungen und Strömungen
sind sie nicht gegangen, allein der erstere Verein betonte mehr die nationale
Zusammengehörigkeit der Arbeiter, der letztere hatte mehr einen internatio-
nalen Charakter. Zum Zwecke einer Vereinigung und der Ausgleichung
persönlicher Differenzen zwischen den Leitern beider Vereine wurde im vori-
gen Jahre im Mai in Gotha ein Congreß abgehalten, auf dem die Ver-
einigung unter dem Namen „socialdemokratische Arbeiterpartei“ stattfand.
Als Präsident wurde damals Hr. Hasenclever erwählt. Das ist der augen-
blickliche Stand; ganz fest steht das Gebäude nicht, weil im August vorigen
Jahres in Hamburg der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein separat sich auf-
gethan hat. Ob er stark genug sein wird, eine gesonderte Stellung einzu-
nehmen, weiß ich nicht. Diese socialistische Arbeiterpartei Deutschlands er-
ließ das damals bekaunt gewordene Programm. (Er verliest dasselbe.)
Das Programm ist an sich ziemlich bezeichnend, aber, meine Herren, keiner,
der staatsfeindliche Tendenzen verfolgt, wird in seinem Programm aus-
drücken, was er will, sondern er wird in seinen Ausdrücken nur so weit
gehen, als das Strafgesetz eben gestattet; zweitens aber wird er allen den-
jenigen gegenüber, die er zu seinen Anhängern machen will, niemals von
vorn herein mit seinen lezten Gedanken herauskommen, sondern er wird sie
nach und nach in sein Netz zu locken suchen, und erst dann ihnen zeigen,
was er im Ganzen will. In diesem Sinne ist es sehr von Bedeutung,
daß die Socialdemokratie weit davon entfernt ist, zu predigen: Auf unserem
politischen Boden ist unser Ziel die rothe Republik, auf dem Boden des so-
cialen Lebens ist unser Endziel der Kommunismus, auf dem Boden der Re-
ligion ist unser Endziel der Atheismus. (Sehr wahr!) Ohne das von vorn
herein zu sagen, zieht sie nach und nach ihre Anhänger heran und hinein,
so daß sie unbewußt in diese Consequenzen kommen. Der erste Schritt ist,
die Unzufriedenheit, wo sie vorhanden ist, zu schüren, wo sie nicht vorhanden
ist, zu erregen. Es ist ja in der Gesellschaft ein Hewisses Mißbehagen, das
fühlen wir Alle und wir fühlen gewiß auch, das Mißbehagen der arbeiten-
en Klasse mit. Da heißt es nun, und das lese ich in mehreren angesehenen
Blättern: Wie kann man sich darüber beklagen, daß die arbeitenden Klassen
Schulthess, Europ. Geschichtskalender. XVII. Bd.