Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

202 Die Gelerreichisch- Angarische Menatchit. (Jan. 48.) 
Die Bemerkungen über die Orientfrage gipfeln darin, daß weder aus 
Ehrgeiz, noch aus Ungeduld, noch selbst aus berechtigter Judignation Gut 
und Blut der Nation in Anspruch genommen werden dürfen, sondern daß 
diese Opfer nur gebracht werden, wenn die Interessen und Rechte des Staates 
nicht anders zu schützen sind. Dies stimmt offenbar denan mit demjenigen 
überein, was der Ministerrath vom 28. Dezember v. J. als Anschauung der 
Gesammtregierung constatirt hat. Bezüglich der inneren Angelegenheiten sagt 
Tisza, die ungarische Regierung wolle mit der größten Mäßigung und Scho- 
nung Alles vermeiden, wodurch eine Calamität herbeigeführt werden könnte. 
aber sie empfinde andererseits auch die Pflicht, alle Rechte und Antersssen des 
Vaterlandes zu wahren. Allem Anschein nach bedeutet das die Aufrecht- 
erhaltung der bekannten Alternative: Ausführung der Mai-Stipulationen 
oder selbständige ungarische Bank, und das scheint auch die in Pest herr- 
schende Parole zu sein. Indessen deuten andere Stellen der Rede, namentlich 
die Bemerkung, daß gerade die Ereignisse des Tages darthun, wie sehr das 
gute Einvernehmen im Interesse beider Reichshälften gelegen sei, darauf hin, 
daß jene scheinbare eherne Alternative bereits unter einem sehr wohlthätigen 
Einsufse zu schmelzen beginnt. Im Ganzen lautet Tisza's Neujahrsrede doch 
versöhnlich. 
4. Januar. (Ungarn.) Eine Studenten-Depnutation geht von 
Pest nach Konstantinopel ab, nachdem die alten Honveds ihnen vorher 
noch ein Bankett gegeben haben. Unter den Klängen des türkischen 
Marsches und Eljenrufen auf die türkische Verfassung, Abdul Kerim, 
Midhat, Kossuth und Klapka durchziehen die Studenten lärmend die 
Straßen von Pest und marschiren unter Voranzug einer Zigeuner- 
kapelle zum Ofener Bahnhof. 
8. Januar. (Ungarn.) Die Deputation, welche dem jüngst 
in der Stadt Czegled zum Landtags-Deputirten gewählten Kossuth 
das Mandat überbringen soll, tritt die Reise nach Italien an. 
Schon die Wahl selbst war ein merkwürdiges Ereigniß. Sämmtliche 
politische Parteien vereinigten sich bei derselben, um durch eine „einstimmige 
ahl dem greisen Patrioten eine eclatante Huldigungs- Manifestation zu 
Stande zu bringen“. Eine noch größere Demonstration bildet die Entsen- 
ung der obenerwähnten Wähler-Deputation: über hundert Bürger von 
Czegléd begeben sich, mit ihrem Bürgermeister an der Spihe, zu dem ehe- 
maligen Dictator von Ungarn, damit sie ihn bewegen, das Thutkktem Mandat 
anzunehmen und in's Vaterland zurückzukehren. Als im Jahr 1867 zwis "t 
der Krone und dem Lande der Friede geschlossen ward, da wurde auch 
ungarischen Emigration die diud kehr in die Heimat ohne weitern Unnd 
estattet. Die Flüchtlinge von ehedem, Graf Julius Andrassy, der heutige 
inister des ##bwerligeged in Oesterreich-Ungarn, an ihrer Spihe, traten sogar 
die unmittelbare Leitung des Staates an. Von keinem derselben forderte man 
irgendwelche formelle Unterwerfung; denn sie alle fügten sich in Loyalität 
und staatsbürgerlicher Treue den neuen Geseben und der neuen Ordnung. 
Anders war es bei Kossuth. Wie man damals erzählte, wurde demselben 
bedeutet, daß er nur dann wiederkehren dürfe, wenn er in einem bezüglichen 
direkten Ansuchen bei der Krone alle die früheren Akte seiner Feindseligkeit 
feierlich zurücknehmen und durch einen neuen Homagialeid und Revers sich zur 
abermaligen Unterthanen= und Gesetzestreue als ungarischer Staatsbürger ver- 
pflichten würde. Das war gewiß ein Minimum von Forderungen, welches 
 
	        
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