Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

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Sprache weichen, ihm widerspricht die deutsche Eigenthümlichkeit der 
Ostseeprovinzen und wird daher Stück für Stück untergraben, bis 
sie zuskfammenbrechen und im russischen Wesen gänzlich aufgehen wird. 
Noch entschiedener tritt die Richtung nach außen auf. Nach dem 
unglücklichen Ausgange des Krimkrieges mußte sich Rußland vor 
allem aus erholen und sammeln, wie der damalige Ausdruck lautete. 
Aber es hat sich auch wirklich gesammelt und erholt. Die Armee 
wurde reorganisirt und mit rastlosem Eifer wurde nach allen Seiten 
hin an ihrer Vervollkommnung gearbeitet, das Gleichgewicht der 
Finanzen wurde, freilich nur knapp und erst in den letzten Jahren, 
hergestellt; Rußland konnte wieder daran denken, nicht nur die da- 
malige Scharte auszuwetzen, sondern vielmehr auf der Bahn, die es 
sich vorgezeichnet hat und die es fast mit der Stetigkeit und Sicher- 
heit eines unabwendbaren Geschickes verfolgt, um ein gutes Stück 
weiter vorzurücken. Im Süden und Osten stößt es in seinem Ex- 
pansionsdrang auf die Türkei und auf England, theils soweit dieses 
für Vorderasien hinter der Türkei steht, theils bezüglich Mittelasiens 
für seine direkten Interessen zu fürchten hat. Die erste, dringendste, 
historisch ihm vorgegeichnete Richtung ist wider die europäische Türkei 
und auf Konstantinopel gerichtet, Mittelasien kommt erst in zweiter 
Linie. Bezüglich der europäischen Türkei aber mußte unausweichlich 
auf den günstigen Augenblick gewartet werden. Mittlerweile rückte 
es wenigstens in Mittelasien im letzten Jahrzehent um einen erkleck- 
lichen Schritt vorwärts. Ein direkter Angriff auf das englische Osl- 
indien gehört vorerst noch in das Reich der Phantasie; daran könnte 
Rußland möglicher Weise erst denken, wenn es das türkische Reich 
überwältigt und zudem Persien in eine gewisse direkte Abhängigkeit 
von sich gebracht hätte, was beides noch ein gutes Stück Arbeit ist 
und jedenfalls Zeit erfordert. Dagegen gelang es ihm, sich die tur- 
kestanischen Chanate in Mittelasien theils unmittelbar, theils wenig- 
steus mittelbar zu unterwerfen, ohne dabei mit England kriegerisch 
zusammenzustoßen, aber nicht, ohne in England einen tiefen Stachel 
und einen dumpfen Groll zurückzulassen, da es ihm das Wort ge- 
geben hatte, sich Chiwa nicht einzuverleiben, aber sein Wort brach 
und es nach seiner Gewohnheit doch that, sobald ihm die Möglich- 
keit dazu gegeben war. Aber keinen Augenblick ließ es darum Kon- 
stantinopel und die europäische Türkei aus den Augen. Schon 1871 
hatte es den ersten günstigen Augenblick ergriffen, um mit Hülfe 
Deutschlands, das es sich im deutsch-französischen Kriege verpflichtet
	        
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