Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

Neberscht der volilischen Erlwichelung des Jahres 1877. 447 
wieder auflebenden orientalischen Frage zu werfen. England hatte 
schon dem Reformprojecte Andrassy's nur unter ausdrücklicher Re- 
serve allfälliger weiterer Schritte gegen die Pforte, die es schon da- 
mals voraussehen mußte, beigestimmt und trennte sich gelegentlich 
des Berliner Memorandums Gortschakoff's, der solche weitere Schritte 
ausdrücklich in Aussicht nahm, von den übrigen Mächten, welche 
ihrerseits in einem gemeinsamen Druck Europas auf die Pforte das 
beste Mittel erkannten, die für alle so gefährliche orientalische Frage 
wo immer möglich nicht wieder aufleben zu lassen. Durch den Ab- 
fall Englands war wenigstens zunächst jedes gemeinsame Auftreien 
Europas unmöglich gemacht, zumal die Pforte darin einen Freibrief 
für ihre Apathie und eine indirekte Aufmunterung in ihrem geheimen 
Widerstand gegen wirkliche Reformen, die ihr zudem aufgezwungen 
werden sollten, erblickte. Vier von den fünf Punkten der Andrassyschen 
Note hatte sie unter dem 13. Februar 1876 noch angenommen, das 
Berliner Memorandum vom 11. Mai gl. J. dagegen lehnte sie unter 
dem 23. Mai als durchaus unannehmbar entschieden ab, und dies 
um so mehr, als inzwischen, in den ersten Tagen des Mai, auch in 
Bulgarien ein Aufstand ausgebrochen war, den es ihr jedoch gelang, 
rasch, wenn auch theilweise unter entsetzlichen Grausamkeiten zu 
unterdrücken. Dadurch übermüthig gemacht, wollte sie von Reformen 
überhaupt nichts mehr wissen und sistirte auch die für Bosnien und 
die Herzegowina bereits eingeleiteten. Europa hatte mit seinen fried- 
lichen, wohlwollenden Reformbestrebungen eine Niederlage erlitten. 
Es war klar, daß ohne Zwang gegenüber der Pforte den christlichen 
Völkerschaften der Türkei zu einem „menschenwürdigen“ Zustande 
nicht zu verhelfen war. Die ganze Frage war wieder auf das Ge- 
biet vollendeter Thatsachen zurückgeworfen und angewiesen. 
In Konstantinopel wie in St. Petersburg wurde das auch 
sofort eingesehen. Dort wurde der Sultan Abdul Ajziz, der durch seine 
wahnsinnige Verschwendung und dadurch, daß er allen seinen Launen 
die Zügel schießen ließb, das Reich an den Rand des Abgrundes ge- 
führt hatte, durch eine Art Ministerrevolution des Thrones entsetzt und 
nachher erdrosffelt und statt seiner der zunächst berechtigte Thronerbe 
als Murad V. zum Sultan ausgerufen. Doch mußte er schon nach 
wenigen Monaten wegen Geistesstörung gleichfalls entfernt und durch 
seinen jüngeren Bruder Abdul Hamid ersetzt werden. Beides waren 
wohlwollende und gutmüthige Männer, aber beide im Harem er- 
zogen und bisher von allen Staatsgeschäften sorgfältig ferngehalten 
Die 
Porte.
	        
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