Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

Nuß- 
land. 
448 ANeberscht der politischen Eutwilelnus des Jahres 1877. 
worden; damit ist eigentlich alles gesagt: von einem kraftvollen 
Herrscher, wie die Gründer des Reichs in Europa und bis in's 17. 
Jahrhundert hinein gewesen waren und wie die Osmanlis einen 
gebraucht hätten, um den politischen Augiasstall ihrer Regierung 
und Verwaltung mit eisernem Besen auszuräumen, war keine Rede. 
Dagegen dachte man in den maßgebenden Kreisen zu Stambul daran 
und traf sogar die Einleitungen dazu, eine Verfassung für das ganze 
Reich zu erlassen und zwar ganz in westeuropäischer Weise mit zwei 
Kammern und allem anderen dazu gehörigen Apparate. Einigen 
Führern der Bewegung wie Mithad Pascha und seinen Freunden 
war es damit allerdings heiliger Erust, die meisten aber sahen darin 
doch wohl nur ein Spielzeug, um der öffentlichen Meinung Europas 
Sand in die Augen zu streuen und um den Mächten die neue In- 
stitution als Schild entgegen zu halten, unter dem sie ungefährdet 
wie bisher fortwirthschaften könnten. Nußland war jedoch seinerseits 
ganz und gar nicht geueigt, die orientalische Frage wieder einschlafen 
zu lassen und erkannte gleichsalls, daß zunächst diplomatisch nichts 
mehr zu machen sei, daß vielmehr vollendete Thatsachen geschaffen 
werden müßten, um jene neuerdings in Fluß zu bringen. Selbst 
aber hervorzutreten, dazu war es noch nicht bereit und hielt es auch 
noch nicht für an der Zeit. Dafür boten sich ihm indeß die tür- 
kischen Tributärstaaten, Rumänien, Serbien und Montenegro, zu 
diesem Zwecke ganz wie von selbst an. Alle drei wünschten lebhaft, 
die Suzeränetät der Pforte ganz abzuschütteln: Rumänien speciell 
träumte damals von einem neuen daco-romanischen Königreiche, das 
schließlich alle Rumänen, auch diejenigen Oesterreichs, namentlich 
Siebenbürgens, umfassen würde; Serbien hielt sich für berufen, alle 
seine Stammesgenossen um sich zu sammeln, das alte Serbenreich 
wieder herzustellen und an die Spitze aller christlichen Bölkerschaften 
der Türkei als deren Befreier zu treten; der Fürst von Montenegro 
aber war thatsächlich längst nur ein Vasall von Rußland und jeden 
Augenblick bereit, zum Schwert zu greifen, um sich von seinen 
schwarzen Bergen aus, in denen sein Volk oft fast verhungern 
mußte, mehr Luft zu verschaffen. Die Aspirationen Rumäniens 
kamen Rußland ganz gelegen, um sich mit demselben für spätere 
Eventualitäten auf den besten Fuß zu setzen; aber zunächst konnte 
ihm Rumänien nicht dienen, zumal Niemand den Rumänen beson- 
dere kriegerische Tüchtigkeit zutraute, obwohl sie bislang noch keine 
Gelegenheit gehabt hatten, sich zu bewähren. Anders verhielt es
	        
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