Kebersicht der polilischen Culwihelung bes Jahres 1877. 451
eine geradezu herausfordernde Rede wider Rußland, die Koaiser Ale-
xander schon am folgenden Tage zu Moskau dahin beantworlete,
daß er die „slavische Sache“ betonte und laut erklärte, daß er „die
feste Absicht hege, selbständig zu handeln". Und schon drei Tage
später folgte dem Worte die That: der Kaiser befahl die Mobili-
firung von 6 russischen Armeecorps in einer Stärke von mehr als
200,000 Mann und die Zusammenziehung derselben an der türki-
schen Grenze unter dem Oberbefehl seines Bruders, des Großfürsten
Nikolaus. Die Hoffnungen auf Erhaltung des Friedens mußten
damit nothwendig auf's äußerste herabgedrückt werden. Es ist mög-
lich oder wenigstens denkbar, daß er noch hätte erhalten werden
können, wenn die fünf Großmächte außer Rußland einig gewesen
wären und wenn sie auf der einen Seite Rußland bestimmt erklärt
hätten, daß sie einen Krieg desselben gegen die Pforte nicht dulden
würden, zugleich aber diese mit Güte oder Gewalt gezwungen hätten,
die erforderlichen Reformen ohne Verzug und im ausgiebigsten Maße
zuzugestehen und auch wirklich durchzuführen. Allein die Mächte
waren unter sich nichts weniger als einig.
Vielleicht daß es möglich gewesen wäre, sie momentan unter Deuucch.
Einen Hut zu bringen, wenn das deutsche Reich, das als die stärksteland und
Militärmacht Europas anerkannt war und das unter der so festeneriem#a.
als klugen Leitung des Fürsten Bismarck das größte Ansehen genoß, lische
sich dazu verstanden hätte, sich an ihre Spitze gegen die russischen 3 109e.
Absichten und Pläne zu stellen. Allein davon wollte der deutsche
Reichskanzler mit Recht nichts wissen. Deutschland ist von allen
europäischen Mächten an der orientalischen Frage in der That direkt
am allerwenigsten interessirt. Warum sollte es sich also in dieser
Frage an die Spitze aller anderen gegen Rußland stellen und in
erster Linie das ganze Odium desselben auf sich laden, eventuell
und leicht möglicher Weise, wenn die Mächte im weiteren Laufe der
Dinge doch auseinander gingen, einen Krieg wagen? Zudem scheint
der deutsche Reichskanzler von der nur zu gegründeten Ueberzeugung
ausgegangen zu sein, daß dem türkischen Reiche doch nicht mehr zu
helfen sei und daß es unabwendbar so oder so seinem selbstverschul-
deten Untergange entgegengehe. Ueberdies bestand zwischen den Kai-
sern Wilhelm und Alexander ein enges Freundschaftsband und war
der Reichskanzler der Meinung, daß Deutschland dem letzteren für
seine Haltung während des deutsch-französischen Krieges immer noch
verpflichtet sei, wie er auch Rußland keinen Beweggrund an die
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