Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

458 Neberscht der volilischen Entwickelung des Juhres 1877. 
stand gegenüber dem bevorstehenden Angriff Rußlands vor dem Di- 
lemma, entweder die Türkei gegen diesen Angriff offen und energisch 
zu unterstützen oder sie definitiv fallen zu lassen, und auch England 
wußte nicht aus diesem Dilemma sich herauszuwinden und ergriff 
einen Mittelweg, indem es die Türkei weder ganz fallen ließ, noch 
auch dieselbe wirksam unterstützte. England ließ die Pforte von 
Anfang an darüber nicht im Zweifel, daß es ihr gegen einen all- 
sälligen Angriff Rußlands keinen materiellen Beistand leisten werde 
und war auch selber darüber nicht im Zweifel, was die mögliche 
und vielleicht wahrscheinliche Folge eines Angriffs von Seite Ruß- 
lands sein werde, indem Lord Derby dem türkischen Gesandten in 
London vor Ausbruch des Krieges rund und nett erklärte, daß es 
sich für die Pforte nicht etwa, wie sie meine, um den Verlust von 
einer oder zwei Provinzen handle, sondern daß es sehr die Frage 
sei, ob am Schlusse des Krieges eine (europäische) Türkei überhaupt 
noch existiren werde. Wenn aber England die Türkei von vorne- 
herein für verloren hielt, so hätte es sie auch seinerseits ganz auf- 
geben und sich von allem Anfang an nach anderen Mitteln gegen 
das drohende Uebergewicht Rußlands umsehen und nicht, wie be- 
hauptet wird, die Pforte unter der Hand gegen die Forderungen 
der Mächte aufhetzen und noch weniger nachher Griechenland von 
einer Unterstützung seiner Stammesgenossen in jeder Weise abhalten 
sollen, um jetzt, da es zu spät ist, das griechische Element hervor- 
zuheben und in ihm das einzige wirksame Gegengewicht gegen die 
slavischen Elemente und die russischen Pläne in der europäischen 
Türkei zu suchen. So stellten sich England und Oesterreich von 
Anfang an dem russisch-türkischen Krieg gegenüber auf einen Stand- 
punkt und befolgten während des ganzen Jahres 1877 in der orien- 
talischen Frage eine Politik, die an inneren Widersprüchen litt und 
darum zur Niederwerfung der Türkei und zum Frieden von San 
Stefano führte, der nur durch einen neuen Krieg beseitigt werden 
könnte oder aber, wenn ein solcher vermieden werden soll, von Eng- 
land wie von Oesterreich im Wesentlichen wird anerkannt werden 
Frank. müssen. Viel einfacher war die Lage Frankreichs und Italiens: sie 
Tichublieben beide wirklich neutral und das war auch in der That das 
Angemessenste und Klügste, was sie thun konnten. Die Protection 
der Katholiken im türkischen Reiche, welche Frankreich allerdings 
jederzeit für sich in Anspruch genommen, ist doch in Wahrheit nur 
ein gemachtes Interesse, lediglich dazu bestimmt, sich gelegentlich in
	        
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