Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

462 Aebersit der pelilisen Entwiuelung des Jahres 1877. 
und wo möglich auch durchführen zu können. Davon wollten indeß 
die Mächte begreiflicher Weise nichts wissen. Im Gegentheil, es war 
durchaus nicht sicher, daß ihm alle Mächte auch nur völlig freie 
Hand gegen die Türkei lassen würden, auch Oesterreich und Eng- 
land. Diese Beruhigung gemährte ihm indeß die Haltung des deut- 
schen Reiches. Aus Gründen, die sich für jetzt noch dem Urtheil 
der öffentlichen Meinung entziehen, war der deutsche Reichskanzler 
entschlossen, Rußland seinerseits gegen die Türkei vorerst freie Hand 
zu lassen und erreichte dadurch jedenfalls das, daß der Krieg zu- 
nächst localisirt und Deutschland sowie das ganze übrige Europa 
von der Kriegesfackel verschont blieb. Durch seine Haltung zwang 
Deutschland gewissermaßen auch Oesterreich dazu, ruhig zu bleiben 
und vorerst zugusehen, womit übrigens jenes nur den innersten 
Wünschen von diesem entgegengekommen sein mag, und da Oester- 
reich ruhig blieb und sern davon war, eine Allianz mit England 
zu suchen, so zwang es bis auf einen gewissen Grad auch dieses, 
das ohne eine Allianz eine genügende Landmacht auf die Beine zu 
Tas bringen nicht in der Lage ist, ruhig zu bleiben. Nußland aber hielt 
Lendenttes, zumal bis es vollkommen gerüstet wäre, für angemessen, noch- 
tolol. mals einen gemeinsamen Ausspruch Europas zu provociren und 
dann erst loszuschlagen, wenn die Pforte denselben, wie voraus- 
zusehen war, nochmals abgelehnt haben würde. Zu diesem Ende 
hin schickte es seinen gewandtesten, aber auch verschlagensten Diplo- 
maten, General Ignatieff, persönlich an die Höfe der Großmächte, 
und dieser brachte denn auch wirklich die Unterzeichnung eines Pro- 
lokolls zu Stande, die am 31. Märg zu London erfolgte und in 
dem die Mächte der Pforte nochmals die so dringenden Neformen 
dringend an's Herz legten, sie, und nicht zugleich auch Rußland, 
zur Abrüstung aufforderten, für den Fall aber, daß die Pforte. 
halsstarrig bliebe, sich alles Weitere vorbehielten. Etwas irgendwie 
für die Mächte Bindendes enthielt das Protoll übrigens nicht und 
England erklärte zum Ueberfluß bei der Unterzeichnung noch beson- 
ders, daß das ganze Actenstück, wenn die gegenseitige Abrüstung 
und der Friede zwischen Rußland und der Pforte durch dasselbe 
nicht erreicht werden follte, das Protokoll felbst von ihm als null 
und nichtig angesehen werde. Es wurde durch dasselbe auch wirk- 
lich nichts erreicht. Die Pforte lehnte es ihrerseits am 9. April 
wie alles Frühere ab. Inzwischen war Rußland mit seinen Vor- 
bereitungen zum Kriege fertig geworden, Kaiser Alexander erließ am
	        
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