Full text: Europäischer Geschichtskalender. Achtzehnter Jahrgang. 1877. (18)

86 Das derische Reich uad seine ein#elnen Slieder. (April 9.) 
im Gegentheile ziemlich prenunzirt liberal ist. Sodann kommt die Affaire 
Verlin-Leipzig. Daß deren Ansgang den Reichskanzler verstimmt hat, glauben 
wir als sicher aunehmen zu dürfen, weniger der Sache wegen, als wegen der 
Motive und der begleitenden Umstände. Wenn es sich im Laufe der Zeit 
herausstellt, daß der zwischen der Reichshauptstadt und Leipzig hergestellte 
Dualismus zu Unguträglichkeiten oder gar zu Gefahren führt, so kann nach 
10, 20 oder 30 Jahren das oberste Gericht von Leipzig nach Berlin über- 
geführt werden. An und für sich ist die Sache nicht 8 schlimm. Zwei Punkte 
aber scheinen es gewesen zu sein, die den Fürsten Bismarck unangenehm be- 
rührt haben. Zunächst hat es 8 gezeigt, daß die Reichsverfassung that- 
sächlich eine Majorisirung der preußischen Interessen zuläßt nach formalem 
Recht, aber gegen die realen Verhältnisse. Dieser Umstand muß nothwendig 
eine Reaction im unilarischen Sinne hervorrusfen. Dadurch wird von Neuem 
an der Verfassung selbst gerüttelt werden, und gerade Das ist dem Reichs- 
kangler unlieb, denn er will eine naturgemäße organische Entwicklung auf 
Grund des Bestehenden und fürchtet das Experimentiren reichsfreundlicher 
Heißsporne. Sodann wird sich der Reichskangler sagen, daß der Ausgang 
wahrscheinlich ein anderer gewesen wäre, wenn er selbst bei Zeiten sich in's 
Mittel gelegt hätte. Gerade die Ueberzeugung aber, daß die Sachen nur 
dann gehen, wenn er selbst sie betreibt, daß diejenigen, auf deren Unterstützung 
er glaubt rechnen zu können, nur handeln, wenn sie von ihm geschoben wer- 
den, mag ihn muthlos gemacht haben. Mit alle Dem hat aber die conser- 
vative Partei nichts zu thun gchabt. Herr v. Kleist-Retzow hat mit Wärme 
für Berlin gesprochen. Es haben im Reichstage drei Fractionen für den 
preußischen Vorschlag gestimmt, keine geschlossen, aber den größten Prozentsatz 
im Verhältniß zu ihrer Stärke an Stimmen für Berlin hatte die deutsch- 
conservative Fraction. Ferner spricht man von den Intriguen in Hoftreisen. 
die dem Fürsten Bismarck das Leben sauer gemacht haben suendt ir wissen 
nicht, was daran Wahres ist; aber so viel wissen wir, daß weder von den 
Leitern der deutsch- conservativen Bewegung, noch von den Mitgliedern der 
gleichnamigen Reichstagsfraction auch nur ein Einziger mit derartigen In- 
triguen das Geringste zu thun hat. Der wahre, eigentliche Grund des De- 
missionsgesuches scheint uns darin zu liegen, daß in den volkswirthschaftlichen 
Fragen der Reichskanzler sich außer Stande sieht, das durchzuführen, was 
er als nothwendig erkannt hat. Fürst Bismarck hat sein Programm in der 
Steuer= und Zollfrage offen ausgesprochen; er erstrebt die Befeitigung der 
Matricular-Umlagen durch allgemeine Finanzzölle. Ferner hält er eine Re- 
form des Eisenbahnwesens für nothwendig. Diese beiden großen Reformen 
kann er aber nur durchführen, wenn er unterstützt wird von dem preußischen 
Ministerium und von der Majorität des Reichstages. Statt diese Unterstützung. 
zu finden, ist er auf Indifferentismus und passiven Widerstand gestoßen. 
bicht das Gespenst einer conservativen Reaction vertreibt den Reichskanzler, 
sondern der Mangel an Unterstützung Seitens der herrschenden Partei.“ 
9. April. (Deutsches Reich.) Eine zahlreiche Versammlung 
im Börsenlocal in Bremen nimmt auf eine bezügliche Ansprache des 
Handelskammer-Präsidenten unter enthusiastischer Accelamation ein- 
stimmig eine Resolution an, 
worin die vertrauensvolle, rückhaltlose Unterstühung der Politik des 
Fürsten Bismarck durch den Reichstag gefordert wird. Es sei ein berechtigtes 
erlangen des deutschen Volkes an seine Vertreter, daß sie, neben dem Streben, 
die Gesetgebung des Reiches in liberolem Sinne zu fördern, niemals des un 
schäbbaren Werthes vergessen, den das Verbleiben des großen Stoatemannes
	        
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