Des besische Reich und seine einzelnen Glieder. (April 13.) 91
müssen wir auf die Politik schließen, die in den europäischen Verhältnissen
von Seiten des Reichskanzlers geführt wird. Der Schluß ist unsicher, aber
wenn ich ihn nach dem Maße meiner dilektantischen Einkuücte machen darf,
1t gestehe ich gern, daß ich ein volles Anerkenntniß für die Thatsache habe,
daß der Reichskanzler in der gesammten Haltung unserer Politik es zum
starken Ausdruck bringt, daß, so jung unser Reich auch sei, es eine voll= und
in sich berechtigte, mächtige Potenz sei, und so phrasenhaft dies klingen mag,
in der Politik ist die Einführung einer jungen Macht zu einer voll auf sich
selbst beruhenden Potenz in den europäischen Dingen ein schwer wicgende
derk und bedarf großer Energie und großer Einsicht. Den Eindruck, daß
wir voll auf uns gestellt sind, daß das Vollbewußtfein des „Ciris omunus
sum- auf dem deutschen Reiche ruht, daß es die entsprechende Stellung in
dem enropäischen Concerte gerade auch gegenüber der orientalischen Frage ein-
nimmt, diesen Eindruck habe ich voll und ganz, und darum habe ich die
Ueberzeugung, daß die ruhige und gesicherte Fortführung dieser Politik ein
wesentliches Interesse Deutschlands bildet. Darum ober halte ich jede Mah=
regel, die auch nur den Eindruck eines Schwankens in dieser unserer Politik
hervorbringt, für überaus gefährlich und schädlich, und darum wiederhole
ich: in keinem ungünstigeren Angenblick konnte die Verabschiedung qewählt
werden. Ich sage Dasselbe aber auch in Bezug auf unfere inneren Verhält-
risse. Das Schicksal will cs, daß gerade auch auf diesem Gebiete in diesem
Augenblicke sich vielfach eine große Unsicherheit und ein gefahrdrohendes
Schwanken geigt. Ich habe hier hauptsächlich das Gebiet der wirthschaft-
lichen Gesetzgebung im Auge. Wir sehen hier Interessen auf Interessen auf-
stehen gegen diese Gesehgebung. Wir sehen, daß diese Interessen in ihrem
Kampfe und in ihrem Gegensatze die Parteien auseinanderreißen, in sich selbst
untergraben, die Majoritätsverhällnisse unsicher machen, ja selbst die Leitung
der Geschäfte in's Schwanken bringen. Und doch haben wir früher selbst
dieser wirthschaftlichen Geseygebung das höchste Lob gezollt und gesagt, daß
die Freizügigkeit, die Gewerbe= und Handelsfreiheit uns pigentlich erst äls
Teulsche in die Höhe der vorgeschrittenen Kulturvölker emporgehoben haben.
Jeht aber finden wir Angriff auf Angriff darauf. Da hat uns denn der
Umstand noch immer eine verhältnißmäßige Sicherheit gegeben, daß diese
ganze Gesetzgebung erlassen worden ist unter vielleicht auch nur der preußi-
schen Initiative und damit sicher unter der ganzen Verantwortlichkeit des
Reichskanzlers. (Sehr wahr! links.) Es ist ein ausschließliches Vorrecht der
unverantwortlichen Krone, auch mit Systemen wechseln zu dürsen. Ein
Staatsmann aber mag innerhalb des Systems bessern oder nachhelfen, wech-
seln kaun ein verantwortlicher Staatsmann mit dem Systeme nicht, wenn er
nicht geradezu die politische Demoralisation in jede Vertretung hineinwerfen,
wenn er jede sichere Rechnung mit gegebenen. politischen Factoren nicht unter-
graben will. (Sehr wahr! links.) Deßhalb konnte auch in dieser Beziehung
das Abschiedsgesuch des Neichskanzlers keine unglücklichere Stunde finden als
die gewählte. Es fehlen uns aber auch alle diejenigen organisatorischen Be-
dingungen, welche unter regelmäßigen zeansttionellen Verhältnissen den
Wechsel einer — erträglich mach en können. Es war ein Zeichen hoher
Regentenweisheit, dah das i such des Reichskanzlers nicht angenom-
men wurde, daß man nach jedem MWulunstemittel echt. welches gerade in
diesem Anfendlite einen Wechsel in der leitenden Persönlichkeit vermeiden
lasten könnte. Ich halte es für vollständig richtig, daß man es nicht ver-
sucht hat, eine eigentliche Stellvertretung für den Reichskanzler herbeiguführen.
Zwar wäre die hierfür nothwendige Verfassungsänderung kein Hinderniß ge-
wesen; ich glaube aber, daß eine solche Stellvertretung nichts Anderes ge-
wesen wäre, als ein Rücktritt auf beliebigen Widerruf, und wir hätten keinen