Das deulsche Reich und seine rinzelnen Glieder. (Juni 28.) 100
ablässig verlangen, Oeslerreich also mit diesen Staaten ernstlich urchnen müssen.
Auch täusche man sich ja nuht! über die S' chwierigteilen, welchen die Oreu-
pation selber begegnen wird. Die österreichischen Truppen werden ganz wie
in Feindesland vorgehen müssen und vorsichtig EClappe um Etappe zu sichern
haben, was bei dem verwahrlosten Zustande der Berlehrswege in Bosnien
eine Arbeit von Monaten sein dürfte, für welche die von den Meichsvertre=
tungen bewilligten 60 Millionen schwerlich hinreichen werden. Die bosnische
Frucht schien, so ist zu fürchten, nur so lange sie am Banme hing. jüß;
sobald man einen Biß hineinthut, wird man merken, wie sauer sie eigenilich
ist. Auch Graf Andrassy wird noch zu erfahren haben. daß verbotene Frucht
nicht immer füß schmeckt, und daß derjenige ein Reich nicht immer stärkt,
der seine Grenzen erweitert.“
lllerdings ist es durchaus unwahrscheinlich, daß die Türkei es auf
einen Krieg mit Oesterreich ankommen lassen sollte. „Es ist ja nuun dahin
vekommen, daß England auf die Nolle eines Veschügers' der Türkei verzichtet
und eine kriegerische Politik der Pforte jeden Nückhalt verloren hat. Unter
diesen Umständen würde man sich wohl auch in Konstantinopel in gewohn=
tem Fatalismus in das Unabwendbare jügen, wenn der Sultau nicht
besorgen müßte, die Zustimmung zu diesem Congrehbeschlusse
mit dem Verlust der Herrschaft zu bezahlen. Die Verschwörungen
der Muradisten, Midhatisten u. s. w. würde der Sultan vielleicht weniger
fürchten, wenn die Lage noch heute dieselbe wäre, wie zur Zeit des Friedens
von San-Stefano. In diesen vier Monaten aber ist es der türkischen Re-
gierung angesichts der drohenden Stellung Rußlands gelungen, ihre Armee
wieder halbwegs zu organisiren und, wie von tür irlischer Seite behauptet
wird, eine Armee von 200,000 Mann zu schaffen. Diese Armee, auf welche
die Herren in Konstantinopel jüngst noch mit Zuversicht und Stolz hinsahen,
ist, bei der für sie unerwarteten Wendung, welche die C Congreswverhandlungen
genommen haben, mit einemmal ihr Schrecken geworde u. Indessen ist die Türkeie
zu einem ernstlichen Widerstand gar nicht im Stande. Sie hat alles daran
gesetzt, einer Verständigung zwischen Nußland und Eugland wegen Zurück-
ziehung der russischen Truppen vor Konstantinopel und der englischen Flotte
aus der Besika-Bai entgegenzuarbeiten. So sind denn alle eibre Streitkräfte
an die nächste Umgebung von Konstantinopel gebunden. Diese Lage macht
der Türkei einen activen Widerstand gegen die Intervention Oesterreichs in
Bosnien unmöglich — und andrerseits ist gerade die Anwesenheit der russi-
schen Truppen vor Konstantinopel und der englischen Flotte bei den Prinzen-
Infeln die einzige Garantie Abdul Hamids gegen seine Gegner. Unter diesen
Umständen wird der Türkei nichts anderes übrig bleiben, als sich schließlich
dem Spruch Europa's im unterwersen. In Konstantinopel wird man sich
darüber klar werden müssen, daß Bosnien für die Türkei in jedem Falle
verloren sein würde. Nehmen wir den Fall, daß der Congreß sich damit
begnügt hätte, Bosnien und der Herzegowina eine halbwegs selbständige
Verwaltung zu geben, deren Einrichtung unter österreichischer Controle er-
folgt wäre. Was würde nach dem Abzug der österreichischen Truppen ge-
schehen sein: Sicherlich würden die Bosniaken in diesem Abzug einen Be-
weis gesehen haben, daß Oesterreich sich des Einflusses auf ihr Geschick begebe,
und so wäre dann nach menschlichem Ermessen nichts anderes erfolgt, als
der Anschluß an Serbien, in dessen Selbständigleit die Pforte bereits im
Frichen von San- Stefano eingewilligt hat; Oesterreich hätte also nur für
Serbien gearbeitet. So ist Oesterreich in seinem eigenen Interesse ge-
radezu gezwungen, in jenen Provinzen seine Herrschaft an die
Stelle der dort völlig illusorisch gewordenen Herrschaft der
Pforte zu Wedo