Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

406 Die päpstliche Cnrie. (Mai.) 
Leo XIIlI. allerdings zu der Forderung der Wiedereinsehung in den früheren 
Stand bewogen, aber „nicht durch Ehrgeiz oder Herrschsucht angetrieben, 
sondern durch die Rücksicht auf unsere Pflicht und durch eidliche Gewissens- 
bande dazu verbunden“; ein vielsagender Hinweis, der sich gleich darauf 
noch einmal wiederholi, wenn der Paplt erklärt — man moöchte fast 
farblosen Ausdruck gebrauchen „mittheilt" daß er seiner Pflicht gemas 
die ihm gebiete, die Rechte der heiligen Kirche zu schützen, alle Erklärungen 
und Proteste Pins' IX. gegen die Wegnahme der weltlichen Herrschaft!r und 
die Verletzung der Rechte der römischen Kirche ernenere und bestätige. Diese 
zennenerung und Bestätigung“ macht den Eindruck, als werde ihr höchstens 
der Werth einer Formsache, die sich eben nicht umgehen läßt, beigelegt; auch 
ist occupatio die stärkste Bezeichnung, die in diesem Zusammenhange ge- 
braucht wird, von Wörtern, wie spollatio, welches doch das deutsche „Be- 
raubung“ an Stärke noch nicht nothwendig erreicht, ist keine Spur vorhanden. 
Solche Milde und Gemessenheit ist nicht etwa einer a#iciüsh en Schwäche des 
Verfassers zuzuschreiben; deun an anderen Stellen, gleich in der Ein- 
leitung, wo das traurige Schauspiel des sittlichen Versalle Ler Menschheit 
geschildert wird, fehlt es der leonischen Feder keineswegs an Kraft des Aus- 
druckes und hervorbrechender subjectiver Wärme. Die hervorragendste Stelle 
ist hier zweifelsohne diesenige, welche die Folgen der gegen die Autorität der 
Kirche gerichlelen Angriffe schildert: die in den meisten Ländern erlassenen 
Gesetze, welche die göttliche Verfassung der römischen Kirche zerstören, die 
Verachtung der bischöflichen Macht, die der Ausübung des geistlichen Amts 
enlgegengestellten Hindernisse, die Zerstreuung der religiösen Orden, die Ein- 
ziehung der Rirchengüter, die Berdrängung der Kirche aus der # Leitung von 
Wohlthätigkeits= und Unterrichtsanstalten, die ungezügelte Freiheit in Schrift 
und Wort. Mit dieser kurzen, fast nackten Aufzählung begnügt sich die 
Encyclica; ein tieferes Eingehen auf Einzelheilen ist sorgfältig vermieden; 
würden vorgegriffene specialisirte Urkheile ja den in Aussicht genommenen 
Verhandlungen mil den weltlichen Gewalten nur Hindernisse in den Weg 
eworfen haben. Ausführlicher sind nur an einer spälern Stelle des Schrei- 
ens die impiac leges behandelt, „welche das religiöse Band der Ehe für 
nichts achlen und dasselbe auf gleiche Stufe mit rein bürgerlichen Verträgen 
gestellt haben.“ Indessen wird daraus nur die unangreifbare Folgerung und 
Forderung gezogen, daß die Geistlichkeit mit um so regerem Eifer die Gläu- 
bigen ermahnen soll, den auf die Heiligkeit der christlichen Ehe bezüglichen 
Lehren ihr Ohr zu leihen und den die Pflichten der Gatten und Kinder 
regeluden Vorschriften der Kirche zu gehorchen. Wenn also nur mit der 
bürgerlichen Eheschließung die kirchliche vereinigt wird, so ist das „gesetzliche 
Concubinat", als welches die der sacramentalischen Weihe enkbehrende Verbin- 
dung dem Auge der Kirche erscheinen muß, eben zur giltigen kirchlichen Ehe 
geworden. Dem aber stellen, wie bekannt, die staatlichen Vorschriften * 
Hemmniß in den Weg; nur ist es Sache der Kirche, dafür zu sorgen, d 
die möglich ben Wirkungen des n gottlosen Gesetzes“ nicht eintreten, und * 
dem vorgebengt werden soll, deutet Leo XIII. durch seine Mahnungen an die 
Geistlichen genügend an. Kurz zusammengefaßt, ist der wesentliche Eindruck 
des päpstlichen Schreibens der, daß es den Standpunkt der Kirche zu wahren 
suche, zugleich aber bedachtsam vermeide, die Aussichten auf eine Versöhnung 
mit den slaatlichen Gewalten zu beeinträchtigen. 
— Mai. Eine neue Schrift Minghetti's, eines der Führer 
der Rechten im italienischen Parlamente, über das Verhältniß zwi- 
schen Staat und Kirche wird auf den Index gefetzt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.