210 Haos deuische Reich und seine einzeluen Glieder. (Juli 10—12).
Jolltarifgesetz mit 217 gegen 117 Stimmen angenommen. Schluß
der Session ohne besondere Feierlichkeit.
Die Debatte wird in der Sitzung vom 11. Juli zum Theil mehr als
lebhaft und erinnert an Scenen, wie sie früher sich nur bei Reden sozial-
demokratischer Abgeordneler einzustellen pflegten. Der Kampf entspinnt sich
namentlich bei den Positionen der Baumwollengarne und bei den Eisen= und
Getreidezöllen. Wenn auf freihändlerischer Seite nochmals, tropdem das Be-
mühen nachgerade als aussichtslos anzmsehen ist, mit aller Energie in die
Debatte eingegriffen wird, so liegt Anlaß genug dazu in dem Umstande, daß
die vereinigten Schutzöllner und Agrarier bei der dritten Lesung noch Er-
höhungen bei den Getreide= und Eisenzöllen beantragen, nämlich den Roggen-
zoll von 0.50 .4 pr. 100 Kg. auf 1.X und die Zollsäte für gewisse Eisen-
waaren gleichfalls höher als “früher zu bemessen, während andererseits durch
das Interesse der schwer gefährdeten deutschen Webereien dringend geboten
erscheint, noch in letzter Stunde einen Versuch zu machen, die in zweiter
Lesung beschlossenen Baumwollengarnzölle zu ermäßigen. Für die Herab-
sevung der Baumwollengarnzölle tritt namentlich der Abg. Reichensperger
(Krefeld) auf das Entschiedensle ein, wozu er um so mehr Anlaß hat, als
in seinem Wahlbezirk Krefeld angenblicklich noch eine sehr entwickelte, für
den Export arbeitende Industrie der Weberei vorhanden ist. Seine eindring-
liche Rede bleibt aber erfolglos, wie auch die Eisen= und Getreidezölle nach
dem abgeschlossenen schutzolluerisch-agrarischen Pact die Mehrheit im Hause
erhalten. Die Er zühung der Eisenzölle wird durch den Abg. Stumm, Be-
siper großer rheinischer Eisenwerke, beantragt. Am umfangreichsten und be-
sonders erregt gestaltet sich die Debatte zu den Getreidezöllen. Der sieges-
gewisse und selbstbewußte Ton, in dem der Abg. v. Kleist-Retzow diekbei
über die Ferrsdezöne und sonst allerhand sich auglant. veranlaßt den Abg.
Richter (Hagen) zu einer besonders heftigen und schneidigen Entgegnung. Der
Reichskanzler, welcher während dieser Rede in den Saal getreten war, hält
dießmal, seiner Gewohnheit in der letzten Zeit entgegen, bei der Rede Richter's
auf seinem Platze am Bundesrathstische aus. Da Herr v. Kleist- Retzow auch
auf die Amtsniederlegung des Herrn v. Forckenbeck und den Berliner Städte-
lag Seitenblicke geworfen, so wird es dem Reichstage zu Theil, aus dem
Munde des Angegriffenen einige Erlänterungen über die angedeuteten Vor-
gäuge zu hören. Forckenbeck betont, der Berliner Magistrat habe sich in den
Grenzen feines verfassungsmäßigen Rechtes gehalten, aber auch seine Pflicht
ausgeübt, welche ihm auferlegt habe, die vitalsten Interessen der seiner Ver-
walkung untergebenen Bürger zu wahren. Er beruft sich auf die bekannte
Petition des Berliner Magistrats, worin nachgewiesen wird, daß die Auf-
bebung der Mahl= und Schlachtsteuer eine erheblich bessere Ernährung der
Berliner Bevölkerung zur Folge gehabt. Man könne es dem Berliner Ma-
gistrate nicht verdenken, wenn er gegenüber anderen Agitationen eine feste
Stellung genommen habe. Eine Agitation der Magistrate der großen Städte
egen das plalte Land sei nicht beabsichtigl gewesen, sei auch nicht nöthig;
a6 werde von selbst eintreten, wenn die Consumenten die Wirkungen der
ölle empfänden. Gegenüber v. Kleist-Reyow bemerkt er, daß er über die
ründe, welche ihn zur Niederlegung des Präsidiums bewogen, dem zuerst
niie2 nichts hinzuzufügen habe. Zölle auf nothwendige Lebensmittel,
speciell auf Getreide, halte er im Interesse des Staates uc
und er werde aieieb wegen dieser Zölle gegen den ganzen Kalif stimmen.
Die neue Zollpolitik bewirke eine bermaßtge Belastung des Volkes nicht
nur zu Gunsten des Staates, sondern auch zu Gunsten von Interessenten-
kreisen. Der Reichskanzler nimmt zwar nicht das Work, wohnt aber den
Verhandlungen über den Getreidezoll bis zum Schluß der Abstimmung bei.