Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zwanzigster Jahrgang. 1879. (20)

228 DHas deuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Sepk. 6) 
Corr.“, schreibt über die Begegnung: „Angesichts der fast gleichzeitigen An- 
wesenheit Kaiser Wilhelm's in Königsberg und des russischen Kaisers in 
arschan war die Wahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens der beiden 
Monarchen allerdings eine sehr nahe liegende, und an die Reise des Feld- 
marschalls v. Manteuffel nach Warschau war denn auch von vornherein die 
Annahme geknüpft worden, daß derielbe wohl den Auftrag haben könne, eine 
derartige Begegnung herbeizuführen, deren Unterbleiben unter obwaltenden 
Umständen mehr aufgefallen sein würde, als ihr Stattfinden. In weiteren 
Kreisen befremdel nun freilich, daß Kaiser Wilhelm sich auf russisches Gebiet 
begibt, also seinerseits dem Kaiser Alexander einen Besuch abstattet, während 
das der Station Alexandrowo so naheliegende preußische Thorn ein ungleich 
günstigerer Punkt für ein Zusammentreffen gewesen wäre, wenn soust schon 
Gründe verschiedenster Art gegen Königsberg gesprochen haben mögen. In 
Alexandrowo soll es mit den Ouartierverhältnissen so schlecht bestellt sein, 
daß mit Mühe ein sehr dürftiges Unterkommen für Kaiser Wilhelm zu be- 
schaffen war, während die Herren seines Gefolges im Eisenbahn-Con#é, 
Meiilsan wie im Kriege, übernachten mußten. Ganz unwillkürlich denkt 
man hier an den Besuch Kaiser Franz Joseph's in Gastein, welcher seinen 
hochbetagten Oheim dort aufjuchte, um ihm jede Bemühung zu ersparen, 
während die Begegnung mit Kaiser Alexander eine ganze Reihe von Unbe- 
quemlichkeiten für den alten Herrn erforderte. Der Reise Sr. Majestät fast 
nnmittelbar vorauf ging ein officiöses Dementi, welches in der „Nordd. Allg. 
Ztg.“ den Combinalionen einiger Blätter über die Mission Manteuffel's er- 
theilt wurde. Dasselbe gipfelte ersichtlich darin, der Entsendung des Feld- 
marschalls diejenige politische Bedentung zu nehmen, welche derselben bei- 
gelegt worden war. Der. Feldmarschall ist in durchaus perfönlichem Auftrage 
des Kaisers, wenn auch natürlich nicht ohne Wissen des Neichskanglers, 
nach Warschau gegangen, ebenso hatte die Begegnung in Alexandrowo einen 
durchaus persönlichen Charakter.“ Endlich meint die „Nat.-Ztg.“: „Es liegt 
sehr nahe, diese Zusammenkunft mit der Mission des Feldmarschalls v. Man- 
teuffel in Zusammenhang zu bringen; doch wäre es jedenfalls eine auffallende 
Thatsache geblieben, wenn die beiden so nahe befreundeten Kaiser, an den 
Grenzen ihrer Reiche auf wenige Eisenbahnstunden Entfernung sich befindend, 
einander nicht begrüßt hätten. Die Begrüßung findet auf russischem Boden 
stalt, wie es die obschwebenden Gründe der Courtoisie wohl nahe legten. 
Es wäre sehr ungerechlfertigt, die politische Bedentung dieser Zusammenkunft 
leugnen zu wollen; diese Bedentung ergibt sich schon daraus, daß ein Unter- 
bleiben der Zusaumenkunst auf ein Erkalten selbst der persönlichen Verhält- 
nisse der beiden Kaiser hätte schließen lassen müssen. Wir warten ab, wie 
weit diese Zusammenkunft auf die unmittelbare Tagespolitik einwirken wird; 
jedenfalls zeigt sie in erfreulicher Weise, daß die Grundlagen der Beziehungen 
der beiden Reiche noch keineswegs erschüttert sind.“ 
6. September. (Deutsches Reich.) Der russische Staats- 
kanzler, Fürst Gortschakoff, spricht sich in Baden-Baden in einem 
Interwiew mit einem der Redacteure des (orleanistischen) Pariser 
Soleil in einer Weise aus, die Frankreich ein Bündniß mit 
Rußland gegen Deutschland nahe zu legen scheint (s. unter 
Rußland). Die Veröffentlichung macht in Deutschland und Frank- 
reich das größte Auffehen. Die öffentliche Meinung in Frankreich 
ist jedoch für den Augenblick entschieden nicht geneigt, auf die Idee 
einzugehen. 
 
	        
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