Das deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Oct. 23.) 257
die Lage Deutschlands und Europas und über die inneren und äußeren Ge-
fahren, denen. es vorzubengen und nöthigenfalls entgegenzutreten gilt. Die-
enigen, die diesen Vorkrag anhörten, wurden davon sehr ergriffen und ver-
ehehn. wenn der Fürst öffentlich so gesprochen hätte, würde ganz Deutsch-
land ihm zugejubett haben. Das gesammte preußische Staatsministerium
wurde vom Fürsten Bismarck von der Nothwendigkeit jenes hochwichtigen
politischen Schrittes überzeugt und machte gemeinschaftliche Sache mit ihm.
Graf Stolberg rreiste nach Baden-Baden, um die Zustimmung des Kaisers
zu erlangen. Für den Fall der Nichtgenehmigung lag das Entlassungs=
gesuch des Reichiinnge im Cabinet des Kaisers. Man kann sich denken,
daß der Kaiser, der stets durch die innigste Freundschaft mit dem russischen
Hofe verbunden war, sich nur sehr schwer enischloß, ein Abkommen zu ge-
nehmigen, das zwar nur friedliche Zwecke verfolgt, aber doch möglicherweise
uns in einen Kampf mit Rußland verwickeln könnte. Dem Grafen Stol-
berg gelang es bei seiner achttägigen Anwesenheit, die Bedenken des Kaisers
berwinden, Se. Majestät hat seine Zustimmung und Unterschrift
ertheilt.“
23. October. (Preußen.) Die nassauische Bezirkssynode be-
seitigt einen Antrag auf Anschluß an die preußische Landeskirche
durch Uebergang zur Tagesordnung.
Die Ablehnung erfolgt ausdrücklich mit Rücksicht auf den reactionären
Verlauf der ersten altpreußischen Generalsynode. Der Antrag geht von
Professor Ernst aus, der die Sache so darzustellen sucht, als bedeute sie bloß
den Austausch des Gultnsministers gegen den Oberkirchenrath, der staatlichen
Spihe gegen eine kirchliche. Dagegen hebt u. A. Kircheurath Dieh hervor,
daß man ohne Schaden warten könne und warten müsse, um nicht in die
irren der Landeskirche bineingepogen und dem confessionellen Eifer der
gegenwärtigen Beherrscher derselben preisgegeben zu werden. Dieses letztere
Bedenken gibt angens nscbetulic den den Ausschlag. Der Berichterstatter der Com-
mission, Synodale den Uebergang zur Tagesordnung empfiehlt,
trägt Sorge, die Motive der Mhrhe vor Mißwverständnissen zu wahren.
Die Synoden von Frankfurt a. M., Kurhessen und Hannover, sagt er, wür-
den mit einem Antrage, wie der hier gestellte, nicht. viel Federlesens machen,
da sie überhaupt keine Vereinigung wollten. Das sei jedoch nicht die Meinung
der Commissions= (und Synodal= Mehrheit: auch sie wolle den Anschluß,
nur nicht in diesem Augenblick. Nassau sei nicht particularistisch, vielmehr
von Anfang her die preußenfreundlichste der neuen Provinzen gewesen und
stehe trotz mancher bitterer Erfahrungen mit Herz und Hand nach wie vor
zu Preußen. Die nassanischen Protestauten insbesondere könnten nicht anders,
als den Anschluß an die große preußische Landeskirche wünschen, denn es
komme ihnen darauf an, Einheit und damit die Kraft des Protestantis-
mus zu befördern. Aber dies brauche nicht auf Kosten der Freiheit zu ge-
schehen und auch nicht auf Kosten der ruhigen Fortentwicklung der eben erst
in das Synodalleben eingetretenen und auf dem Boden der vollen Union
beider z#angelliichen Bekenninisse stehenden nassauischen Kirche. Von beson-
derer Wichtigkeit neben diesen Ausführungen der Sprecher der ablehnenden
Mehrheit ist die erfreuliche und verständige Erklärung des königlichen Com-
missars, Geh. Oberregierungsrath Barkhausen aus Berlin, daß das Kirchen-
regiment zwar die Vereinigung der einzelnen evangelischen Kirchen wünsche,
die Initialive aber ausschließlich den synodalen Organen überlassen müsse,
da nur bei freier, unbeeinflußter Selbstbestimmung der zu vereinigenden
Schulthess, Europ. Geschichtskalender. XX. Bd. 17
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