Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zwanzigster Jahrgang. 1879. (20)

Kußland. (Mai 26 — Juni 6.) 489 
schaften verdoppelt. In Pelersburg und Moslau wird Tag und Nacht zu 
Fuß und zu Roß patroullirt. 
26. Mai. Ein kaiserlicher Ukas ermächtigt den Finanzminister 
zu einer neuen innern Anleihe von 300 Mill. Rubel als „dritter 
HOrientauleihe“. 
— Mai. Zwischen dem Kaiser und dem Thronfolger soll 
ein sehr ernstes Zerwürfniß obwalten. So viel ist sicher, daß die 
politischen Anschanungen beider vielfach entschieden auseinander 
gehen. 
31. Mai. Der Botschafter in London, Graf Schouwaloff, 
erhält einen längeren Urlaub und soll später ganz abberufen werden. 
Derselbe scheint nicht geradezu in Ungnade gefallen zu sein, aber er 
wird doch zunächst gewissermaßen kall gestellt. 
Eine Petersburger Korrespondenz bemerkt dazu: „Im Auswärtigen 
war Gortschakow der entschiedene Rivale und Gegner Schuwalow's, unter- 
stüht von der Vartei der Slavisten, welche dem Botschafter seine klare Hal- 
tung auf dem Berliner Congresse nichl vergeben können. Im Innern stehen 
ihm ebenfalls diese Schwärmer für nationale Polilik enigegen, die in ihm 
den unrussischen West-Europäer hassen, den energischen Staatslenker fürchten. 
ie haben es vermocht, Schuwalow's vollkommene Rehabilitirung beim Czaren 
zu hintertreiben, und die Parole, die gegen ihn ausgegeben ward, lautele 
stets: Rußland könne keinen Minister aus der Hand Bismarck's nehmen. 
Eben weil Schuwalow der Günstling Bismarcks, Deutschlands, Europas 
war, weil die deutsche Presse dem Wunsche unzweidentig seit Jahr und Tag 
Ausdruck gab, Schuwalow am russischen Staatsruder zu sehen, eben darum 
stießen die Slavisten ihn entrüstet zurück. So steht in der That die deutsch- 
russische Freundschaft: Deutschland braucht einen hervorragenden russischen 
Staatsmann nur zu begünstigen, zu oben um ihn in Rußland zu die- 
creditiren! Man darf übrigens aus dem Zurücktreten Schuwalow's nicht 
weitgehende Schlüsse auf eine Aenderung der russischen Polilik ziehen. Mit 
Schuwalow wird die freundschaftliche Haltung zu Deutschland noch nicht be- 
eitigt werden. Aber freilich verschwindet eine kräftige Stütze dieser Freund- 
chaft wenisstens auf einige Zeit von dem politischen Schauplatz. Tas alte 
Rußland von 1870 bröckelt mehr und mehr ab, nur der Grundpfeiler cha- 
rischer Majestät ½ unerschüttert aufrecht stehen. Die Deutschen sind am 
russischen Hofe bereits fast gänzlich verschwunden, und die „Westler“ ver- 
schwinden immer mehr. Die alten czarischen Freundr, die Lieven, Suwarow, 
Pahlen, die Grünwaldt, Helmersen u. s. w. Sind abgethan, der Eine wegen 
Alters, der Andere durch Austrikt aus dem Staatsdieust, Biele sind ge- 
storben. Nun kommen diejenigen drau, die, ohne deutsche Geburl, doch ein 
Stück deutschen oder westeuropäischen Wesens angenommen hatten, und man 
wird damit enden, daß auch die äußerliche französische Bildung als elwas 
Fremdes vertrieben werden wird. Dann kommt der rein nalionale russische 
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6. Juni. Solowieff, der Urheber des Attentats auf den Kaiser 
vom 14. April wird zum Tode verurtheilt und das Urtheil am 
10. d. M. mittelst des Stranges vollstreckt.
	        
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