Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 28-29.) 121
Presse und auch sonst Sorge tragen und werde dafür so viel Anhänger
werben, wie ich im Lande irgend finden kann. Das halte ich für mein
Recht und meine Pflicht. (Bravo! rechts.)
Das Schwergewicht der Rede des Reichskanzlers ruht offenbar auf
der Erklärung, die er gleich zu Anfang derselben macht, daß mit staatlicher
Unterstützung eine Alter- und Invaliden-Versorgung-, resp. Versicherungs-
anstalt im ganzen Reiche eingerichtet werden solle, analog wie die Unfalls-
versicherung, eine Idee, die er noch in den Motiven zu dem letzteren Gesetz
Entwurfe in ziemlich weite Ferne gerückt hatte. Der Reichskanzler gibt zu,
die Ziele, die er sich stelle, hätten vielleicht ein Menschenalter nöthig, um
zu entscheiden, ob sie überhaupt erreicht werden sollen oder ob sie verworfen
werden; aber er erklärt mit Nachdruck, daß der Weg eben einmal betreten
werden müsse. Im Fernern erklärt er neuerdings, daß den Gemeinden nach
seiner Ueberzeugung die Armen-, Polizei und Schullast abgenommen werden
müsse. Das Alles erfordert jedoch große, sehr große Summen. Diese können
unmöglich durch directe Steuern aufgebraucht werden, sondern nur durch
indirecte. Solche indirecte Steuern sind nun in erster Linie die drei vor-
geschlagenen, um die es sich zunächst handelt, die aber zu jenen Zielen bei
weitem nicht genügen: im Hintergrunde steht, wie er neuerdings andeutet,
das Tabaksmonopol, allenfalls auch eine Erhöhung der Zölle. Ohne
leidenschaftlicher Schutzzöller zu sein — sagt er ganz offen — bin
ich doch ein leidenschaftlicher Finanzzöllner wegen der Ueberzeugung,
daß die Finanzzölle, die Grenzzölle fast ausschließlich vom Auslande ge-
tragen werden, namentlich für Fabrikate, und daß sie immer eine nützliche
schutzzöllnerische Rückwirkung haben, und bei der Entwickelung unseres Tarifs
bin ich fest entschlossen, jeder Modification des Tarifs nach der anderen,
freihändlerischen Seile hin zu widerstreben und nach der Seite des größeren
Schutzes, einer höhern Revenue vom Grenzzoll hilfreich zur Seite zu stehen,
so weit mein Einfluß reicht.“ Gegenüber den politischen Bedenken aber bei
einer so gewaltigen Erhöhung der indirecten Steuern behufs Entlastung der
Gemeinden erklärt er: „Meine Absicht ist keineswegs, in die Selbstverwaltung
der Gemeinden einzugreifen: aber ich widerstrebe meinerseits entschieden einer
Decomposition des Staatslebens in communale Republiken, ich
erstrebe eine Staatsautorität, die über denselben schwebt und unabhängig ist
von nach Majoritäten beschließenden Organen, die keine Verantwortlichkeit
tragen und von denen nachher niemand mehr weiß, wer Schuldner und wer
der Büßende ist.“ Uebrigens ist die ganze Rede ausgesprochener Maßen
eine Wahlrede, mit Rücksicht auf die im Herbst vorstehenden allgemeinen
Neuwahlen, zwar im Reichstage gehalten, aber für die Wähler bestimmt,
weßhalb denn auch der arme Mann, der in Wind und Wetter beschäftigte
Feldarbeiter, die Schulkinder ohne Schuhe und Strümpfe darin eine große
Rolle spielen. „Wir wollen die vorliegenden Steuern — sagt der Reichs-
kanzler unumwunden für Zwecke, welche diesem Reichstage noch nicht
vorliegen, für die wir uns aber bei Zeiten die öffentliche Meinung sicher
siellen wollen, und wir haben auch die Absicht, den Wählern damit zu
sagen; wer für die Zwecke, die wir hier angeführt haben, den Gemeinden
die Schullasten, die Armen= und Polizeilasten und die Standeslasten zu er-
leichtern, wer für den Zweck der Alters und Invalidenversorgung wirken
will, wird wohl thun, Jemanden zu wählen, von dem man erwartet, daß
er die Bestrebungen der Regierung unterstützt. Daß wir darüber den Wählern
Klarheit geben, ehe die Wahlen kommen, und recht häufig und recht oft,
das halte ich nicht nur für das Recht der Regierung, sondern für die Pflicht
der Regierung; der Wähler hat ein Recht zu wissen, wohin die Regierung
hinaus will, und deßhalb wollen wir das, wie man sagt, recht breit treten,