Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

156 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 29—30). 
Sicherheitsbestellung für die Wirkungen des Gesetzes vom Unternehmer even- 
tuell durch den Nachweis der Rückversicherung bei einer staallich zugelassenen 
Versicherungsgesellschaft zu verlangen. Gleiches Recht sollen Arbeiter und 
Angestellte haben." Die Partei will von einem durch den Staatsbeitrag 
eingeleiteten Staatssozialismus nichts wissen und will darum die gesammten 
Kosten der Entschädigung dem Unternehmer auferlegen — aber sie will die 
Fälle der Entschädigungspflicht außerordentlich im Vergleich mit dem Re- 
gierungsentwurf einschränken. Indem sie keine Entschädigung gewähren will, 
wenn der Unfall durch höhere Gewalt herbeigeführt wurde, und nur eine 
geringere Entschädigung bei eigenem, doch nicht absichtlichem Verschulden des 
Getödteten oder Verletzten, verzichtet sie auf einen wesentlichen Theil der 
günstigen sozialpolitischen Wirkung, welche man sich von einem richtigen 
Vorgehen auf diesem Gebiete versprechen darf. Wenn auch künflig beispiels- 
weise Hunderte durch ein großes Grubenunglück erwerbslos gewordene Fa- 
milien auf das öffentliche Mitleid angewiesen wären, so würde der Umstand, 
daß „höhere Gewalt“ das Unglück herbeigeführt, die Verbitterung nicht min- 
dern, welche solche Erfahrungen in den Arbeiterkreisen immer von Neuem 
hervorrufen. Es ist ein unbestreitbarer Vorzug der Regierungsvorlage, daß 
sie solche Unterscheidungen nicht macht. 
29—30. April. (Deutsches Reich.) Reichstag: 2. Lesung 
des Gesetzentwurfs betr. Besteuerung der Dienstwohnungen von Reichs- 
beamten. Die Commission stimmt dem Princip der Vorlage, die 
Steuer nicht nach dem Schätzungswerthe der Localitäten, sondern 
nach dem Gehalte des Beamteten zu bemessen, bei und beantragt 
die Steuer auf 15% des Gehaltes zu stellen. Rede des Reichs- 
kanzlers gegen die Angriffe E. Richter's, gegen den sog. Berliner 
Fortschrittsring und gegen die bloße, leere Beredsamkeit mit der 
Drohung, die Reichsregierung und den Reichstag von Berlin weg 
zu verlegen. Schließlich wird das Gesetz nach dem Antrage der 
Commision genehmigt und zwar § 1 mit 110 gegen 104, § 2 mit 
105 gegen 95 Stimmen. 
In der Debatte provoczirt E. Richter (Hagen) die Antwort des 
Reichskanzlers, indem er die Vorlage bekämpft: Es liege kein Grund vor, 
neue Vergünstigungen für die Reichsbeamten zu schaffen. Die Motive ent- 
hielten unrichtige Angaben über die Berliner Verhältnisse. Der Vorwurf 
des Reichskanzlers bei Gelegenheit der ersten Lesung dieser Vorlage, daß die 
Berliner Stadtverwaltung bei Veranlagung der Miethsteuer parteiisch zu 
Werke gehe, sei unbegründet und habe in Berlin eine wahre Verleumdungs- 
Aera angeregt. Während Richters Rede tritt der Reichskanzler Fürst Bis- 
marck ein. Reichskanzler: Ich will mir nur einige Worte gestatten, um 
die principiellen Grundlagen der Gesetzesvorlage gegenüber den vielen ab- 
schweifenden Deductionen, die sich an sie geknüpft haben, wieder in den 
Vordergrund zu stellen. Ich will nicht darauf eingehen, obschon das wohl 
dazu gehören könnte, die Frage: ob die Miethsteuer eine harte und un- 
gerechte sei und in wie weit, nochmals zu mustern. Das Schärfste, was 
darüber gesagt werden kann, habe ich mir erlaubt, bei der ersten Discussion 
mitzutheilen in Gestalt einer Eingabe des Magistrats von Berlin an den 
Minister des Innern, in der gerade als eine besondere  Eigenschaft dieser 
Steuer hervorgehoben wurde, daß sie mit der Leistungsfähigkeit und dem