Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dec. 15.) 311 
dem er hervorhebt, daß von 50 beanstandeten Wahlen nicht weniger als 
36 auf Preußen fallen, nur 14 aber auf das übrige Deulschland und von 
diesen 14 wieder 8 auf Sachsen, also nur 6 auf alle übrigen Bundesstaaten 
und den Grund dieser Erscheinung in einer ganz ungehörigen Wahlbeein- 
flussung jener Regierung findet, die übrigens in schroffem Gegensatz stehe zu 
den Aeußerungen, die noch im März d. J. der in dieser Sitzung nicht an- 
wesende Reichskanzler über die Frage wörtlich dahin gethan habe: „Soviel 
an der Reichsregierung und namentlich an mir als Kanzler liegt, bin ich 
den Einwirkungen von Beamten stets entgegengetreten, nicht immer mit Er- 
folg. Ich theile die Meinung des Herrn Vorredners, daß es der Würde 
des Beamten nicht entspricht, sich in die Wahlkämpfe zu mischen, namentlich 
nicht in öffenllichen Reden. Ich bitte Sie fest überzeugt zu sein, daß ich 
nach keiner Seite hin eine jeweilige Beeinflussung dulden werde, soweit ich 
eine solche hindern! kann.“ Viel schärfer geht Rickert in die Sachlage ein, 
indem er eine ganze Reihe von Wahlbeeinflussungen preußischer Beamter, 
zum Theil stärkster Art, im Detail aufführt und erörtert und namentlich 
auch die Haltung und Sprache der officiellen „Provinzial- Correspondenz“ 
während des Wahlkampfs einer schneidenden Kritik unterzieht. Dagegen 
erhebt sich nun der Minister v. Puttkamer, der sich für die Haltung 
der „Prov.-Corr.“ verantwortlich erklärt, das Vorgehen der Regierungsorgane 
durch die Art des Angriffs seitens der Oppoition für vollkommen gerecht- 
fertigt erklärt und dahin schließt: „Die Regierung Sr. Maj. des Königs 
von Preußen ist keine Parteiregierung, kann sich mit keiner Partei identifi- 
ciren und ist daher bei den Wahlen in einer sehr — wie soll ich sagen — 
sehr hilflosen Lage, denn sie hat keine directen Organe, durch welche sie auf 
die öffentliche Meinung einwirken, dieselbe aufklären kann, und die Presse 
ist ja bekanntlich zu sieben Achteln in den Händen der Oppositionsparteien. 
Also muß die Regierung erwarten, daß diejenigen Beamten, in deren Händen 
wesentlich die politische Vertretung der Staatsgewalt liegt, wenn und inso- 
weit sie überhaupt ihre Rechte als Wähler und Staatsbürger ausüben, die 
Regierung unterstützten. Sie erwartet das ganz zuversichtlich von den Be- 
amten, und davon ist sehr wohl zu unterscheiden die unerlaubte Wahlbe- 
einflussung, die die Regierung ebensowenig wünscht wie Sie, d. h. eine 
Wahlbeeinflussung, die sich darin documentirt, daß das ummittelbare Gewicht 
des Amts mit in den Wahlkampf hineingeführt wird; davon wird natürlich 
keine Rede sein. Aber, meine Herren, das wiederhole ich jedoch mit großer 
Bestimmtheit, und damit will ich schließen: die Regierung wünscht, daß inner- 
halb der Schranken des Gesetzes ihre Beamten sie bei der Wahl nachdrückich 
unterstützen, und ich kann hinzufügen, daß diejenigen Beamten, welche das 
in treuer Hingebung bei den lebten Wahlen gethan haben, des Dankes und 
der Anerkennung der Regierung sicher sind, und, meine Herren, was mehr 
werth ist, daß sie auch des Dankes ihres kaiserlichen Herren sicher sind.“ 
Die letzten Worte des Ministers erregen gewaltiges Aufsehen und rufen 
v. Bennigsen auf die Tribüne, der zwar dem Minister „die Möglichkeit  
nicht verschränken will, daß er die Beamten, für deren Thätigkeit er bis auf 
einen gewissen Grad auch verantworlich ist, hindert, in einer tendenziösen 
Weise der Politik der Regierung entgegen zu treten, namentlich wenn es sich 
um solche Beamte handelt, deren politischer Character vorzugsweise aner- 
kannt ist durch diejenigen Bestimmungen, die ja bekanntlich eine ganze Reihe 
von Beamtencategorien unter die Disponibilität stellen. Aber der Herr 
Minister ist viel weiter gegangen. Er hat sich, wie ich es verstehen muß, 
für ein System ausgesprochen, dessen böse Folgen wir seit vielen Jahren 
in Frankreich sehen, wo das ganze Beamtenthum zur Verfügung des Ministers 
steht und dieser bei Wahlen nur auf einen Knopf drückt, die ganze Maschine