22 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 15.)
fahrungen und der verfügbaren Mittel sich als erreichbar darstellen. Na-
mentlich ist es nicht die Absicht, die gesetzliche Regelung der Invaliditäts-
und Altersversorgung von der weiteren Erwägung principiell auszuschließen.
Erst die Erfahrungen der in der gegenwärtigen Vorlage in Aussicht ge-
nommenen Reichsversicherungsanstalt werden, namentlich wenn diese in der
Richtung auf freiwillige Versicherungen eine erhebliche Ausdehnung gewinnen
sollte, eine ausreichende Beleuchtung des künftig zu bearbeilenden Gebietes
und sichere Anhaltspuncte für die weiter einzuschlagenden Wege gewähren.
Diese Erfahrungen werden daher vor weiteren Schritten abzuwarten sein,
zumal es sich um eine gesetzgeberische Arbeit handelt, deren Ab-
schluß ein volles Menschenalter erfordern wird.“
Die Motive wenden sich dann dem Gesetze vom 7. Juni 1871 zu,
weisen darauf hin, daß der Rechtszustand, der geschaffen worden, ein unbe-
friedigender gewesen, der das Bedürfniß einer Aenderung und Besserung
fühlbar gemacht. Kaum könne bestritten werden, daß die Verhältnisse zwi-
schen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eher verschlimmert als verbessert worden.
Der Beweis des Verschuldens des Unternehmers macht die Wohlthat des
Gesetzes für den Arbeiter meist illusorisch und gerade bei folgenschwersten
Unfällen unmöglich. Der Proceß gegen den Arbeitgeber ist bei der Ver-
mögenslage und dem Bildungsgrade des Arbeiters schwierig. Die Verbitte-
rung wird genährt, der Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer
verschärft. Auch die jetzige Gestaltung der Unfallversicherung bessert an diesem
Verhältniß nichts. Es ist eine Lage geschaffen, deren Beseitigung im Inter-
esse beider Classen der gewerblichen Bevölkerung gleich wünschenswerth er-
scheint. Aufgabe der Gesetzgebung ist es nun, eine Regelung herbeizuführen,
welche die Arbeiter gegen die wirthschafllichen Folgen der bei der Arbeit
eintretenden Unfälle in möglichst weitem Umfange sicherstellt, ohne die In-
dustrie mit unerschwinglichen Opfern zu belasten, und ohne auf das Ver-
hältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen nachtheiligen Einfluß
zu üben. "
Die Motive gehen dann des Näheren auf die Vorschläge ein, welche
zur Revision des Gesetzes vom 7. Juni 1871 gemacht worden, und suchen
nachzuweisen, daß sie „allesammt an dem Grundsatze des allgemeinen Obli-
gationenrechts, wonach die Verbindlichkeit zum Schadenersatze durch ein Ver-
schulden begründet wird, festhalten wollen, nichtsdestoweniger aber durch das
Bedürfniß, den Verhältnissen des vorliegenden besonderen Gebietes Rechnung
zu tragen, zu den einschneidendsten Abweichungen von den Consequenzen
dieses Grundsatzes und von den allgemeinen Rechtsbegriffen über Beweis-
pflicht und über rechtliche Prätentionen gedrängt werden und damit in die
Lage kommen, der allgemeinen Regelung dieses Theils des Obligationsrechts
in einer bedenklichen, in ihren Consequenzen nicht zu übersehenden Weise
vorgreifen.“ Muß schon dieses principielle Bedenken von der Betretung des
in jenen Anträgen angedeuteten Weges abmahnen, so stehen überdieß der
Wahl dieses Weges auch die erheblichsten practischen Schwierigkeiten ent-
gegen. In welcher Weise auch die „nähere Regelung der Verantwortlichkeit
und der Beweislast“ gedacht werden mag, sie wird immer darauf hinaus-
laufen müssen, daß hinsichtlich der Einrichtungen und der Ordnung des Be-
triebes bestimmte Forderungen aufgestellt werden, deren Nichterfüllung, mag
sie im Streitfalle von dem Verletzten bewiesen werden müssen oder bei man-
gelndem Beweise der Erfüllung präsumirt werden, die Haftbarkeit des Unter-
nehmers für die Folgen eines eingetretenen Unfalles begründet. Der Ver-
such, diese Forderungen durch Specialvorschriften für die verschiedenen Be-
triebsarten festzustellen, würde auf die Schwierigkeit stoßen, die in Betracht
kommenden Verhältnisse aller einzelnen Betriebsarten so sicher und erschöpfend