Kußland. (Dec. 5 — Milte.) 519
5. December. In St. Petersburg werden neue Sicherheits-
maßregeln organisirt.
An die Hausbesixer in den Hauptstraßen der Nesidenz ergeht die
polizeiliche Aufforderung, diejenigen ihrer Inwohner zu bezeichnen, welche
bereit sind, die Controle über die Hansbewohner zu übernehmen. Die Haus-
besiter werden von jeder Ansfahrt des Kaisers, wenn derfelbe nach St. Peters-
burg kommen sollie, unterrichtet. Dann liegt ihnen ob, darüber zu wachen,
daß von ihrem Haus aus kein Attentat versucht werde. Abgesehen von der
schweren Verantwortlichkeit, womit die Hausbesiher belastet werden, scheint
diese neue Sicherheitsmaßnahme keine glückliche, da das ohnehin schon all-
gemein gewordene Mißtrauen Aller gegen Alle dadurch nur noch weiter ent-
wickelt wir
7. December. Politischer Proceß in St. Petersburg.
9. December. Der Kaiser feiert in Gatschina das Georgs-
ritterfest.
II. December. Plötzliche Enthebung des Grafen Schuwaloff
vom Commando der Garde. Die Maßregel macht um so größeres
Aufsehen, als der Graf noch am 9. d. M. beim Georgsfest unter
dem Großfürsten Wladimir die Parade der Georgsritter comman-
dirt hat.
Mitte December. Verhaftungen in Moskau. Die Krönungs-
feierlichkeiten werden auf unbestimmte Zeit verschoben. In Peters-
burg meint man, daß der Kaiser in Moskau nicht sicherer sein
würde als dort, und daß folglich von einer Verlegung der Residenz
und des Schwergewichts der Regierung nach Moskau, wie Moskauer
Blätter träumten, im Ernst kaum die Rede sein könne.
Die Lage ist eine überaus traurige. Der „Weser Zig“ wird darüber
aus Petersburg geschrieben: „Wer die Wahrheit sagen will, muß gestehen,
daß unsere Zustände von Tag zu Tag hoffnungsloser werden. Die Regie-
rung und die Freunde des Zaren wollen nun erst recht die Revolution durch
Gewalt niederwerfen, während sie täglich mehr in Aller Munde ist, aus-
schließlich die Verhältnisse beherrscht, ungreifbar ist und immer neue, durch
die allgemeine Nothlage verzweifelte Sendboten ausschickt und schon Hunderte
von Federn beschäftigt. Es ist bereits ganz gewöhnlich. Gespräche zu hören
über die Folgen des nächsten vollbrachten Mordes am Zaren. Wer wird
die Regierung aufnehmen für die kaiserlichen Kinder: Der Zarin traut
man die Geistesstärke nicht zu — und Großfürst Wladimir? Wird nicht
wieder eine Palastintrigne, deren die Zarengeschichte so viele aufzuweisen
hat, alles verändern? Oder hat gar in den höchsten Kreisen der Nihilismus
außer dem nach Taschkent verbannten Großfürsten Konstanlin noch mehr
Vertreter, vielleicht schon bevollmächtigte Bolen, die im entscheidenden Mo-
ment handelnd auftreten? Kopflos geht die Verschwörung nicht zu Werke;
wer weiß es, ob sie nicht den constitutionellen Herrscher nach russischem be-
sonderen Muster schon bestimmt hat! Das sind alltägliche Gespräche ernster
Männer, die sich der Proclamation der „Narodnaja Wobr. au Europa und
an den Zaren sehr wohl erinnern.“