Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

606 Kebersicht der polilischen Enkwicklung des Jahres 1881. 
man doch den Juden ihre Religion und erschrecke doch nicht allzu- 
sehr, wenn radicale jüdische Journalisten gelegentlich auch das 
Chrislenthum angreifen und begeifern; ihre Stimmen gehen wahr- 
haftig in dem allgemeinen radicalen Gebell unter, gegen das keine 
Hehe irgend welcher Art möglich ist. Ober was soll es viel helfen, 
wenn kein Jude mehr Richter, keiner mehr Schullehrer soll werden 
können? Blutwenig oder gar nichts. Das sind Empfindlichkeiten, 
für die unsere Zeit wenig Sinn mehr hat und die nur die eigene 
Schwäche verrathen. Ein wirkliches Gebrechen aber liegt darin, daß 
man dieselben Gesetze, die für den dritten Stand, für Handel und 
Gewerbe passen, auch auf die Landwirthschaft und auf die gesammte 
bäuerliche Bevölkerung ausgedehnt hat, für die sie nicht passen und 
deren eigenster Natur sie widersprechen. Die Zeit wird schon kommen, 
wo man sich mit diesen Verhältnissen und Zuständen sehr ernsthaft 
wird beschäftigen müssen. Vorerst sind sie im Ganzen noch leidliche, 
so sagt man, und kann sie daher noch auf die lange Bank schieben. 
Tie Aus. In der Auswanderungsfrage dagegen kann man nicht eben so gut 
wande- 
rungs- 
frage. 
zuwarten. Deutschland nimmt alle fünf Jahre um ca. eine halbe Mil- 
lion Seelen an Bevölkerung zu und die Auswanderung aus Deutsch- 
land hat im Jahre 1881 eine Höhe erreicht, die in den nächsten 
Jahren kaum abnehmen wird. Offenbar leidet es an einem Be- 
völkerungsüberschuß, den es bei dem jetzigen Stande seiner wirth- 
schaftlichen Entwickelung nicht verdauen d. h. organisch und ohne 
Schwierigkeit in sich aufnehmen kann und der daher seine Existenz 
in der Ferne zu suchen gezwungen ist. Denn daß diese Auswanderer 
alle oder auch nur ein irgend nennenswerther Prozentsatz derselben es 
zu Hause bisher mehr oder weniger gut gehabt habe und nur aus- 
wandere, um es noch besser zu haben, wird doch Niemand behaupten. 
Um diese ganze Masse der Auswanderer, obgleich sie doch auch Kinder 
der Nation sind und sogar einen gar nicht unerheblichen Theil 
derselben ausmachen, bekümmert sich der Staat gar nicht und die 
öffentliche Meinung ist gegen sie ganz gleichgültig, ihnen eher ab- 
geneigt als geneigt. Da wird berechnet, wie viel auf diese Aus- 
wanderer pro Kopf seit ihrer Geburt habe verwendet werden müssen, 
um sie so weit zu bringen — fast hätten wir gesagt, es werden die 
Herstellungskosten eines Menschen im Durchschnitt bei Heller und 
Pfennig berechnet — und daraus die Summe in Geldwerth zusam- 
mengezogen, die also Deutschland durch die Auswanderung jährlich 
verliere. Allein diese Rechnung ist rein fictiv. Wenn die Auswan-
	        
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