Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

620 Nebersicht der polilischen Enkwichlung des Jahres 1881. 
Als die Kammer am 28. October zusammentrat, und zunächst 
die tunisische Angelegenheit parlamentarisch erledigt hatte, auch das 
Ministerium Ferry seinerseits zurückgetreten war, übernahm er 
zwar den Auftrag des Präsidenten Grovy, bildete aber am 
14. November nicht das allgemein erwartete „große Ministerium“ 
d. h. eine aus den anerkanntesten Capazitäten des Landes unter 
seinem Vorsitze zusammengesetzte Regierung, sondern ein spezifisches 
Ministerium Gambetta, indem er ausschließlich seine ergebensten 
Anhänger zu seinen Mitarbeitern auswählte. Die Enttäuschung 
war eine große und die Unzufriedenheit darüber vielfach eine nicht 
kleine. Doch wollte man billig gewärtigen, was er denn selbst 
nunmehr Großes bringen werde. Er verlangte dazu Zeit und der 
Rest des Jahres verfloß, ohne daß er irgend welche Vorlagen ein- 
brachte, die er und feine Collegen erst ausarbeiten mußten. Sein 
jäher Sturz schon am 26. Januar 1882 und der entschiedene 
Mißcredit, in den er seitens der Mehrheit der Kammer und der 
öffentlichen Meinung ausgesprochener Maßen verfiel, fallen nicht 
mehr ins Jahr 1881. Gerade diejenigen Männer, die Gambetta 
aus seinem Ministerium ausgeschlossen hatte, Freycinet, Ferry und 
Leon Say traten unter dem Vorsitze Freycinets an seine Stelle, 
die Revanche-Idee wurde entschieden zurückgestellt und von Aben- 
teuern irgend welcher Art, wie man sie von Gambekta, um Frank- 
reich wieder seine frühere Stellung in Europa zu verschafsen, 
gewärtigen mußte, war zunächst keine Rede mehr. 
Bemerkenswerth war es, wie Frankreich zu derselben Zeit, 
in welcher der sogen. Culturkampf in Deutschland erlahmte und 
seinem Ende entgegen ging und zwar nicht zu Gunsten des Staats 
trotz des Rückhalts oder vielleicht eben um des Rückhalts willen, 
den er in der protestantischen Mehrheit der Nation gefunden hatte, 
sich seinerfeits mit wahrer Leidenschaft dem Bestreben hingab, die 
Rechte des Staats der katholischen Kirche gegenüber nicht nur zu 
wahren, sondern auch nach allen Seiten hin auszudehnen, nachdem 
freilich unter dem zweiten Kaiserreiche gerade das Gegentheil Platz 
gegrifen hatte. Was in dieser Beziehung in den letzten Jahren 
begonnen worden war, wurde im Jahre 1881 energisch fortgesetzt. 
Regierung, Kammer und Senat gingen dabei im wesentlichen 
durchaus Hand in Hand und nur der leßtere versuchte es wieder- 
hohlt, den allzuraschen Gang wenigstens etwas zu mäßigen. 
Auch die Neuwahlen zur Kammer feielen entschieden anticlerical
	        
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