80 Das deutsche Beich und seine einzelnen Glieder. (Mai 23.)
in der Regierung für seinen damaligen Standtpunkt zur Geltung bringe.
v. Minnigerode hält das Verfahren der Reichsregierung für korrekt. €s
handle sich um eine spezifisch preußische Angelegenheit, die vor das Forun
des Reichstages nicht gehöre. Die Interpellanten möchten sich mit den entgegen-
kommenden Erklärungen v. Puttkamers im Abg.-Hause beruhigen. Windt-
horst bedauert, daß die Regierungen noch vor Anhörung des Interpellanten
die Veantwortung der Interpellation abgelehnt haben. Er halte den Reichs-
tag nicht bloß für berechtigt, sondern selbst für verpflichtet, in solchen An-
gelegenheiten die Stimme zu erheben, so oft er es für nötig halte. Die
vom Interpellanten vorgebrachten einzelnen Fälle seien aber nicht durch alle
Instanzen in Preußen gegangen, also für den Reichstag noch nicht reif. Erst
wenn Preußen jede Hilfe verweigere, werde der Reichstag der Sache näher
treten können. Nach weiteren nichts neues enthaltenden Bemerkungen Richters,
v. Kardorffs und Lassens wird die Angelegenheit verlassen.
23.—31. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: 3. Lesung
des Krankenkassengesetzes. Die Veränderungen gegenüber dem Re-
sultate der 2. Lesung sind trotz der einläßlichen Veratung nicht
gerade bedeutend. Die Frage der Herbeiziehung der ländlichen
Arbeiter zu den Krankenkassen wird gegen den Beschluß der 2. Lesung
nach dem Wunsche der Regierung, welche diese Ausdehnung des Ge-
setzes nachdrücklich für unannehmbar erklärt, grundsätzlich negativ
entschieden. Das Gesetz als Ganzes wird schließlich mit 216 gegen
99 Stimmen angenommen.
Die obligatorische Krankenversicherung für alle nicht ländlichen Ar-
beiter ist also gesichert, da an der Zustimmung des Bundesrats nicht ge-
zweifelt wird. Auffallend ist nur, daß eine Majorität sich zusammengefunden
hat, die den Termin für das Inkrafttreten dieses dringlichen Gesetzes bis zum
1. Desember 1884, also anf einen Zeitraum von anderthalb Jahren, hinaus-
geschoben hat. Es gewinnt jast den Anschein, als ob man dikatorische Politik
getrieben habe in der Befürchtung, daß das Inkraftreten dieses tief einschnei-
denden Gesetzes in die voraussichtliche Zeit der Neuwahlen zum Reichstage
fallen werde und den Agitationen der Gegner Vorschub leisten könne. Der
Ausschluß der ländlichen Arbeiter durch die Regierung stößt auf starke
Zweifel bez. ihrer Zweckmäßigkeit, indem Viele meinen: Eine Wirkung lasse
sich schon heute mit Bestimmtheit voraussagen: der ländliche Arbeiter wird
rascher als lieb erkennen, daß er seine soziale Lage im städtischen Gewerbe
ungleich günstiger gestalten kann als in seiner ländlichen Beschäftigung und
es werden deshalb die bäuerlichen Arbeitskräfte successiv sich in die städtischen
Gewerbe hinüberziehen und die Lage der Landwirtschaft wird dadurch in
entsprechendem Maße verschlimmert werden.
Das Gesetz, der erste Schritt auf dem Wege der sogen. Sogialgesetz=
gebung wird von der öffentlichen Meinung durchweg auch als ein großer
Fortschritt angesehen. Die Verarmung zahlreicher Arbeiterfamilien hat that-
sächlich ihren Grund darin, daß sie in Zeiten der Krankheit ihrer Ernährer
eine ausreichende Unterstützung nicht erhalten. Der in Krankheitsfällen
meistens auf öffentliche Unterstützung angewiesene Familienvater erhält in
der Regel erst dann Hilfe, wenn die häusliche Einrichtung, die Ersparnisse,
Arbeitsgeräte und Kleidungsstücke für die Krankenpflege und den notdürf-
tigsten Unterhalt geopfert sind. Und selbst dann, wenn die Armenpflege
früher helfend eintritt oder der Erkrankte Mitglied einer Krankenkasse, ist die