88 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 5—6.)
jene Vorschläge im verflossenen Jahre die Znstimmung der Landesvertretung
nicht gefunden haben, so ist doch das Bedürfnis einer Ordnung dieser Materie
damals von allen Seiten anerkannt worden. Der Staatsregierung war es
deshalb erwünscht, in Anknüpfung an den bekannten Briefwechsel zwischen
Sr. Majestät dem Könige und dem Oberhaupte der katholischen Kirche in
eine Erörterung über diesen Gegenstand mit der römischen Kurie einzutreten.
Durch die der Öffentlichkeit übergebene Note des preußischen Gesandten in
Rom an den Staatssekretär Kardinal Jakobini vom 5. Mai ds. Js.
die Grundlinien gezogen, innerhalb deren die Staatsregierung eine ander-
weitige Regelung der Benennungspflicht bei den gesetzgebenden Faktoren zu
empfehlen bereit ist. Diese Vorschläge gehen unter Berücksichtigung der bei
der vorjährigen legislativen Beratung ausgesprochenen Bedenken und Anre-
gungen auf eine andere Gestaltung der Mitwirkung des Staates bei Besehung
geistlicher Amter hinaus, und es ist zugleich erklärt, daß hierbei sowohl von
der Konstituierung eines Widerrufrechts für den Staat, als auch von einer
Ausnahmestellung bestimmter Distrikte, insbesondere solcher, in welchen die
polnisch- Sprache herrscht, werde abgesehen werden können. Wenn die Vor-
schläge bei der römischen Kurie bisher nicht das entsprechende Entgegenkomnen
gefunden haben, so hat die Staatsregierung sich die Frage vorlegen müssen,
ob nicht diejenigen Erleichterungen welche nach den Darlegungen der Note
vom 5. Mai ds. Jrs. möglich sind, ohne wesentliche Interessen des Staates
und seine Antorität zu schädigen, dem Lande alsbald zu gewähren seien,
oder ob die Gewährung von dem zur Zeit noch nicht zu bestimmenden Aus-
gange der Erörterungen mit der römischen Kurie abhängig zu machen sei.
Die Staatsregierung hat sich für die erstere Alterntive. entschieden da für
sie nur das Interesse des eigenen Landes und das Wohlergehen der eigenen
Staatsangehörigen maßgebend fein können, diese Rücksichten aber die in der
Note beziechneten Erleichterungen thunlich und anrätlich erscheinen lassen. Der
vorliegende Gesetzentwurf charakterisiert sich daher als die legislative Formu-
lierung des in der Note vom 5. Mai d. J. iligierten Programms.“ Hieran
schließt sich folgende Erläuterung der eingelnen Artikel: Art. 1 und 2.
Die Anzeigepflicht, welche den geistlichen Oberen bei der Anstellung von Geist-
lichen nach den Vorschriften des Gesetzes vom 11. Mai 1873 der Staats-
örde gegenüber obliegt, bezieht sich zunächst 1) auf alle Fälle, in welchen
ein geistliches Amt übertragen werden soll, sie findet dann aber auch 2) auf
rein provisorische Stellungen Anwendung, deren Inhaber ein Amt überhaupt
nicht bekleiden, sondern lediglich mit Stellvertretung oder Hilfsleistung in
einem geistlichen Amte betraut sind (§§ 1, 2, 15 des Gesetzes vom 11. Mai
1873). Unter den Begriff geistliches Amt fallen alle kirchlichen Ämter,
mit welchen die Vornahme von heiligen, eine Ordination voraussetzenden
Handlungen verbunden ist. Es gehören dahin also: 1) die Pfarrämter, deren
Träger in unmittelbarer Unterordnung unter dem geistlichen Obern innerhalb
Feines festbestimmten Bezirks für die Verwaltung der Sakramente, für die
Feier des Gottesdienstes und für Ausübung der kirchlichen Lehrgewalt be-
sind (§ 18 1c ), 2) die Seelsorgeämter ohne pfarramtliche Rechte (§ 19 1c.
Auf weitere Unterscheidungen ist die staatliche Gesetzgebung bisher nicht ein-
gegangen, insbesondere hat der dem katholischen Benefizialrecht geläufige
Gegensatz zwischen fest und nicht fest zu besehenden Kirchenämtern für die
Anzeigepflicht keine Berücksichtigung gefunden. Die bezüglichen Gesetzesvor-
schriften kommen vielmehr zur Anwendung, gleichviel ob ein geistliches Amt
dauernd oder widerruflich übertragen wird (§ 2 1 c). Eine Notwendigkeit,
den Kreis der anzeigepflichtigen geistlichen Amter in diesem weiten Umfange
aufrechtwerhalten, liegt nicht vor. Wie noch heute in den meisten deutschen
Ländern, z. B. in Bayern, Württemberg und Baden, sowie in Oesterreich, so