Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 22. 97
Bei der Abstimmung über Art. 1 treten Konservative, Zentrum und
Polen geschlossen für die Vorlage und die Fassung der Kommission ein, dazu
der größere Teil der Freikonservativen, etwa ein Dutzend Mitglieder der Fort-
schrittspartei, darunter Richter, Parisius Stratzmann, Ludwig Löwe, Munckel,
endlich der Sezessionist v. Hönika. Gegen die Vorlage stimmen vollständig
geschlossen die Nationalliberalen, sodann mit der erwähnten Aus nahme die
Sezessionisten, die größere Hälfte der Fortschrittspartei und die kleinere der Frei-
konservativen. Die Konservativen und das. Zentrum stimmen also geschlossen.
ebenso die Nationalliberalen und die Sezessionisten. Dagegen teilt sich die
Fortschrittspartei für und gegen, wie zu erwarten stand. Aber auch die frei-
konservative Partei teilt sich schließlich jür und gegen. Innerhalb derselben
war nämlich zuletzt eine lebhafte Disserenz über die Vorlage entstanden. Ein
großer Teil der Fraktion verlangte absolute Ablehnung des Gesetzentwurfs,
dagegen drohte eine erhebliche Angahl Mitglieder mit dem Austritt aus der
Fraktion, falls der Gesetzentwurf abgelehnt und damit die Fortsetzung des
Kulturkampfes unterstützt würde. Eine Verständigung konnte nicht erzielt
werden.
Das Schwergewicht der Debatte jällt auf die Erklärungen des Zen-
trums und die der Regierung. Den Standpunkt der Nationalliberalen
drückt v. Cuny kurz und bündig aus, indem er den Abbruch der Verhand-
lungen mit Nom fordert und daß der Staat ganz von sich ans seine Stel-
lung zur Kirche und seine Rechte regle. Die Fortschrittspartei läßt
ihrerseits keinen Zweifel darüber, daß sie in allen ihren Schattierungen einer
radikalen Trennung von Kirche und Staat zusteuere und daß ihre Mit-
glieder nur über die Mittel und Wege, wie dieses Ziel zu erreichen sei, aus
einandergehen, was allerdinge eine gewisse Zweideutigkeit ihrer Haltung be-
dingt. In jenem Sinne hatte Birchow einen Abänderungsantrag zu Art.
eingebracht, wonach Geistlichen, bei denen der Anzeigepflicht nach bisherigen
Gesetzen nicht genigt ist. die Anstellung an Staalsanstalten ect. und der Bezug
staatlicher und sonstiger Kompetenzen entzogen wird, ohne ihnen geistliche
Amtshandlungen zu untersagen, oder sie dafür zu bestrafen. Der Antrag
wurde jedoch abgelehnt. Namens der Konservativen spricht v. Rauchhaupt
sein unbedingtes Verdammungsurteil über die Maigesetze aus und erklärt,
man müsse „Unsern katholischen Mitbürgern den Frieden wieder gewähren“,
den sie nicht halten wollten. Für das Zentrum sprechen Peter Reichen=
sperger-Olpe und Windthorst. Reichensperger greift die Nationaliberalen
an und meint, sie hätten kein Herz für die Klagen des katholischen Volkes,
würden aber noch mehr solche Strafen für ihre Stellung erleiden, wie sie
bereits getroffen; denn dem einmütigen Verlangen der gesamten Bevölkerung
auf endliche Beseitigung des Kulturkampfes gegenüber würden die ohnmäch=
tigen Bemühungen derselben nur zu ihrer Vernichtung führen. Die National-=
liberalen würden nur daun wieder eine Bedeutung erlangen, wenn sie Frei-
heit auch der Kirche gegenüber fordern. Die berühmten Begründer der
liberalen Partei (d. h. die radikalen Idealisten der Revolution) genössen den
größten Ruhm eben deswegen, weil sie die Freiheit von der Kirche ebenso
wenig trennten, als von anderen Institutionen; aber die schwachen, über-
mütigen Epigonen folgten ihnen darin nicht, sondern wollten bedingungslose
Unterwerfung der Kirche unter den Staat. Dem Autrag Birchow stehe er
durchaus sympathisch gegenüber; was er verlange, habe er selbst oft als
modus vivendi bezeichnet. Art. 1 der Vorlage bedeute allerdings einen
wesentlichen Schritt vorwärts zur Anbahnung des Friedens. Der einzig
richtige und ehrenvolle Weg hiefür wäre jedoch Wiederherstellung der Art. 15,
16 und 18 der Verfassung. Windthorst erklärt, daß er und seine Partei
dem Gesetze, wie es aus der Kommission gekommen, zustimmen als einem
Schulthess, Europ. Geschichtslalender. XXIV Bd. 7