Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

98 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 2.) 
Schritte zum Frieden. Es komme weniger auf den Tenor des Gesetzes an, 
als darauf, daß   wohlwoltend aus ausgeführt werde. Nicht wohlwollend 
gehandhabt, werde es allerdings neue Kämpfe erzeugen. Das österreichische 
Gesetz sei in dem Sinne gegeben, daß es nach Bedürfnis angewendet werden 
kann, nicht wie das preußische nach strengen Formeln unter Mitwirkung der 
Gerichte. Die Vorlage jei auch ein Schritt zur Revision der Maigesetze. Er 
hoffe, daß die Regierung im nächsten Jahre eine dahingehende Vorlage machen 
werde. Eine dauernde und feste Besetzung der Pfarrstellen sei eine derartig 
notwendige, durch das kanonische Recht sanktionierte Enrichtung- daß es zur 
Sicherung derselben einer unwürdigen Strafandrohnng gegen die geistlichen 
Oberen nicht bedürfe. Die Verhältnisse vor den Maigesetzen bedingten keines- 
wegs derartige Maßregeln, denn diese Zustände waren vortreffliche und 
mustergiltige. Sie rührten her aus der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV., 
die viele eine Mißregierung nennen, die aber in Wahrheit eine glorreiche 
und segensvolle gewesen ist, welche auch den Katholiken freie Bewegung und 
Religionsübung gestattete. Der Antrag Virchow sei der Ausdruck der Tren- 
nung von Kirche und Staat; wenn auch eine solche an sich nicht wünschens- 
wert sei, könne man doch dazu gedrängt werden. Auch die gange Richtung 
der Zeit deute auf die Notwendigkeit oder Unausweichlichkeit  der Trennung 
hin. Wolle der Staat dieselbe hintanhalten, so müsse er schleunigst das 
jetzige Staatskirchenrecht beseitigen. Die Zustimmmg der Konservativen zu 
den Komissionsbeschlüssen erfülle ihn mit Befriedigung; er freue sich, gerade 
ein solches Gesetz mit denselben erledigen zu können, und hoffe im Interesse 
des Staates auf ein weiteres Zusammengehen mit denselben. Dem Art 4 
werde er nie zustimmen können, denn er bedeute die Beugung der Kirche 
unter das Maigesetz, oder ihre Vernichtung. Die Katholiken haben aber 
nicht um ihre Rechte zu betteln, sondern ihre Rechte zu verlangen, die 
ihnen durch Königswort gewährleistet seien; er wolls sehen. wer daran deuteln 
wolle; er wenigstens habe stets das Vertrauen, daß Versprechungen gehalten 
werden. Wenn den Katholiken übrigens mit einer gewissen Majorität ge- 
droht werde, so müsse er doch sagen, daß die Katholiken immerhin stark genug 
seien, um jeder, auch der tollsten Majorität gewachsen zu sein. Kultminister 
v. Goßler: Wenn gemeint wird, die Zustimmung der Kurie Zu der Vor- 
lage sei nicht garantiert, so ist die Regierung doch in der Erwartung vor- 
gegangen, daß dieselbe nachträglich erfolgt, gleichwie. dies bei der österreichi- 
schen Gesetzgebung im Jahre 1874 geschehen ist. Die Regierung hofft, daß 
die Vorlage einen ruhigen Zustand schaffen werde, unter dem es möglich sein 
wird, weitere Regelungen besser herbeiführen zu können. Allerdings, wenn 
die Kirche das  Gesetz nicht acceptiert und der Zustand nicht eintritt, den wir 
erhoffen, würde für die Intessen des Staats eine ernste Gefahr erwachsen 
können. Dann würde aber der Staat vor die Frage sich gestellt sehen, ob 
dieser Rest der Anzeigepflicht noch aufrechtzuerhalten sei. Vorläufig glaubt 
die Regierung auf dem eingeschlagenen Wege zu einem ersprießlichen Zu- 
stande gelangen zu können, und diesen Weg nicht ungedrängt durch die Macht 
der Verhältuisse aufgeben zu sollen. Wenn man sich auf diesen Standpunkt 
der Regierung stelle, werde man begreifen, daß sie die Vorlage so wie sie ist, 
gemacht hat. „Wenn ein gedeihliches Zusammenwirken gwischen Staat und 
Kirche auf dem jeht beschrittenen Wege nicht zu erzielen ist, und trotz des 
Art. 18 des Gesetzes vom 11. Mai 1873 die Bennung der Pfarrer inner- 
halb Jahresfrist nicht erfolgt, vielmehr eine reine Missionsseelsorge etabliert 
wird, dann wird es vielleicht notwendig werden, den Haken, an dem die 
ganze Sitnation hängt, zerbrechen zu lassen und die ganze An- zeigepflicht 
über Bord zu werfen.“ 
25. Juni. (Preußen.) Abg.-Haus: J. Lesung des kirchen-
	        
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