98 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 2.)
Schritte zum Frieden. Es komme weniger auf den Tenor des Gesetzes an,
als darauf, daß wohlwoltend aus ausgeführt werde. Nicht wohlwollend
gehandhabt, werde es allerdings neue Kämpfe erzeugen. Das österreichische
Gesetz sei in dem Sinne gegeben, daß es nach Bedürfnis angewendet werden
kann, nicht wie das preußische nach strengen Formeln unter Mitwirkung der
Gerichte. Die Vorlage jei auch ein Schritt zur Revision der Maigesetze. Er
hoffe, daß die Regierung im nächsten Jahre eine dahingehende Vorlage machen
werde. Eine dauernde und feste Besetzung der Pfarrstellen sei eine derartig
notwendige, durch das kanonische Recht sanktionierte Enrichtung- daß es zur
Sicherung derselben einer unwürdigen Strafandrohnng gegen die geistlichen
Oberen nicht bedürfe. Die Verhältnisse vor den Maigesetzen bedingten keines-
wegs derartige Maßregeln, denn diese Zustände waren vortreffliche und
mustergiltige. Sie rührten her aus der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV.,
die viele eine Mißregierung nennen, die aber in Wahrheit eine glorreiche
und segensvolle gewesen ist, welche auch den Katholiken freie Bewegung und
Religionsübung gestattete. Der Antrag Virchow sei der Ausdruck der Tren-
nung von Kirche und Staat; wenn auch eine solche an sich nicht wünschens-
wert sei, könne man doch dazu gedrängt werden. Auch die gange Richtung
der Zeit deute auf die Notwendigkeit oder Unausweichlichkeit der Trennung
hin. Wolle der Staat dieselbe hintanhalten, so müsse er schleunigst das
jetzige Staatskirchenrecht beseitigen. Die Zustimmmg der Konservativen zu
den Komissionsbeschlüssen erfülle ihn mit Befriedigung; er freue sich, gerade
ein solches Gesetz mit denselben erledigen zu können, und hoffe im Interesse
des Staates auf ein weiteres Zusammengehen mit denselben. Dem Art 4
werde er nie zustimmen können, denn er bedeute die Beugung der Kirche
unter das Maigesetz, oder ihre Vernichtung. Die Katholiken haben aber
nicht um ihre Rechte zu betteln, sondern ihre Rechte zu verlangen, die
ihnen durch Königswort gewährleistet seien; er wolls sehen. wer daran deuteln
wolle; er wenigstens habe stets das Vertrauen, daß Versprechungen gehalten
werden. Wenn den Katholiken übrigens mit einer gewissen Majorität ge-
droht werde, so müsse er doch sagen, daß die Katholiken immerhin stark genug
seien, um jeder, auch der tollsten Majorität gewachsen zu sein. Kultminister
v. Goßler: Wenn gemeint wird, die Zustimmung der Kurie Zu der Vor-
lage sei nicht garantiert, so ist die Regierung doch in der Erwartung vor-
gegangen, daß dieselbe nachträglich erfolgt, gleichwie. dies bei der österreichi-
schen Gesetzgebung im Jahre 1874 geschehen ist. Die Regierung hofft, daß
die Vorlage einen ruhigen Zustand schaffen werde, unter dem es möglich sein
wird, weitere Regelungen besser herbeiführen zu können. Allerdings, wenn
die Kirche das Gesetz nicht acceptiert und der Zustand nicht eintritt, den wir
erhoffen, würde für die Intessen des Staats eine ernste Gefahr erwachsen
können. Dann würde aber der Staat vor die Frage sich gestellt sehen, ob
dieser Rest der Anzeigepflicht noch aufrechtzuerhalten sei. Vorläufig glaubt
die Regierung auf dem eingeschlagenen Wege zu einem ersprießlichen Zu-
stande gelangen zu können, und diesen Weg nicht ungedrängt durch die Macht
der Verhältuisse aufgeben zu sollen. Wenn man sich auf diesen Standpunkt
der Regierung stelle, werde man begreifen, daß sie die Vorlage so wie sie ist,
gemacht hat. „Wenn ein gedeihliches Zusammenwirken gwischen Staat und
Kirche auf dem jeht beschrittenen Wege nicht zu erzielen ist, und trotz des
Art. 18 des Gesetzes vom 11. Mai 1873 die Bennung der Pfarrer inner-
halb Jahresfrist nicht erfolgt, vielmehr eine reine Missionsseelsorge etabliert
wird, dann wird es vielleicht notwendig werden, den Haken, an dem die
ganze Sitnation hängt, zerbrechen zu lassen und die ganze An- zeigepflicht
über Bord zu werfen.“
25. Juni. (Preußen.) Abg.-Haus: J. Lesung des kirchen-