Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Olt. 19—20.) 143
2410, in der ersten Abteilung von 6599 Wählern die liberalen 5311, die
Bürgerpartei 1288 Stimmen. Da jede Abteilung 42 Stadtverordnete wählt,
so würde selbst ein Sieg der Bürgerpartei in der dritten Abteilung derselben
nur 42 Stimmen sichern. Die Teilnahme der Wahlberechtigten betrug in
der dritten Abteilung 43 Prozent, in der zweiten 66. in der ersten 80 Prozent.
Von den 42 Wahlen der dritten Abteilung fallen 22 auf Mitglieder der
Fortschritts-, 6 auf die Bürger= und 2 auf die Arbeiterpartei; in 12 Fällen
müssen Stichwahlen stattfinden und zwar 2 zwischen Fortschritts= und Arbeiter-
partei, 10 zwischen Fortschritts= und Bürgerpartei.
19. Oktober. (Preußen.) Sensationeller Judenprozeß vor
dem Schwurgericht in Cöslin wegen des Synagogenbrandes in Neu-
Stettin, der von den Vorstehern der Synagoge selbst veranlaßt oder
gefördert worden sein soll. Sämtliche Angeklagten leugnen jedoch,
dennoch werden die angeklagten Juden von den Geschworenen für
schuldig erklärt.
Der Brand war allerdings auffallend und nach den Zeugenaussagen
der Sachverständigen mußte das Feuer aus dem Allerheiligsten ausgekommen
sein, dann sich durch eine am Boden befindliche Flüssigkeit rapid weiter ver-
breitet haben; so nur sei es möglich, daß der Fußboden gänzlich verkohlt,
die Synagoge in einer halben Stunde total eingeäschert werden konnte, denn
die Synagoge war nicht unterkellert. Indes stand die Anklage von vorne-
herein auf schwachen Füßen, und konnte ein Beweis, daß die angeklagten
Juden den Brand angelegt und befördert hätten, nicht erbracht werden. Der
eigentliche Anstifter des Brandes ist nicht ermittelt, nichtsdestoweniger aber
sind die jüdischen Angeklagten wegen Hilfeleistung bei dem Verbrechen ver-
urteilt worden. Damit ist indirekt ausgesprochen, daß unbekannte Juden
selbst die Synagoge in Brand gesteckt haben, um die That den Antisemiten
in die Schuhe schieben zu können. Hier liegt offenbar ein Fall vor, wo die
Entscheidung der Schuldfrage durch Geschworene in hohem Grade bedenklich
ist. Bei der Bildung der Jury sind alle Geschworenen abgelehnt worden,
welche jüdischer Abstammung waren. Wäre das nicht geschehen und wären
dann die Angeklagten freigesprochen worden, so würden die Antisemiten die
Geschworenen ebenso der Parteilichteit beschuldigen, wie dies jetzt von der
anderen Seite geschieht. In einem Prozeß, in welchem die Leidenschaften auf
beiden Seiten in solchem Umfange aufgeregt waren, würde der Urteilsspruch
rechtsverständiger Richter, wenn auch nicht gerechter gewesen, so doch eher als
gerecht anerkaunt worden sein. Ein erfreuliches Moment liegt darin, daß
auf das deutsche Gericht, sei es auf Untersuchungs richter. Staats -anwalt. Ver-
teidiger oder Richter, auch nicht ein Schimmer jenes fatalen Lichtes fällt,
welches zur Schande Ungarns die Verhandlungen von Nyiregyhaza beleuchtete.
Selbst die Verteidigung hat nicht einmal angedeutet, daß den Angeklagten
ihre Rechte verkümmert würden. Keine Spur des Vorwurfs tritt zu Tage,
daß die Untersuchung parteiisch gegen die Angeklagten vorgegangen sei, wäh-
rend gerade die schnöde Parteilichteit, Gesetzwidrigkeit, Gewaltthätigkeit der
Untersuchung des Rätsels von Tisza-Eszlar die Welt am meisten entsetzt hat.
20. Oktober. (Deutsches Reich.) Aufführung eines großen
Lutherfestspiels in Jena, dem auch das erbgroßherzogliche Paar
beiwohnt.
20. Oktober. (Preußen.) Auf einer Eisenbahnkonferenz in