Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

412 Uebersich! der politischen Enkwinelung des Jahres 1883. 
Revanchegedanke erhielt durch dieselben einen Aufschwung, den er 
vorher nicht gehabt hatte und ohne sie vernünftigerweise nicht 
haben konnte. Eine totale Erdrückung Deutschlands zwischen den 
beiden großen Militärmächten, wenn beide sich aufs äußerste an- 
strengten, schien nicht unmöglich zu sein und diese Möglichkeit la- 
gerte sich wiederholt wie eine drohende Wolke über den europäischen 
Horigzont. Und doch war es nur ein Phantasma, dessen Verwirk- 
lichung ungeheure Schwierigkeiten entgegenstanden. 
Der deutsche Reichskangler ließ sich dadurch nicht aus seiner 
klaren kalten Fassung bringen und zu keinen voreiligen Schritten 
drängen. Die gewaltige, in sich gefestigte, selbstbewußte Macht 
Deutschlands ließ sich, zumal im Verein mit Oesterreich-Ungarn, 
doch nicht so leicht einfach überrennen: darauf vertraute er. In- 
zwischen war er ruhig und ohne alle überstürzung bemüht, das 
Friedensbündnis mit Oesterreich zu befestigen und weiter auszu- 
dehnen, um in erster Linie Frankreich immer mehr zu isolieren. 
Das Friedensbedürfnis aller Nationen, im Grunde selbst Frankreich 
nicht ausgenommen, kam ihm dabei mächtig zu Hilfe und ebenso 
sehr begüglich Frankreichs selbst die Unfertigkeit seiner Armeereform, 
seine inneren Parteikämpfe und die Wucht, mit der es sich auf 
koloniale Eroberungen und Erwerbungen warf, welche es notwendig 
von den europäischen Dingen abziehen mußten und überdies mil 
seinem einzigen Alliirten England zu entgweien drohten. Zwar 
wogte die Hoffnung einer russischen Allianz wie ein Irrlicht von Zeit 
zu Zeit immer wieder vor den Augen der Frangosen hin und her; 
aber sie erschicn ihnen selber nachgerade doch als ein sehr ungewisses 
Ding und trat allmählich mehr und mehr in den Hintergrund. 
Noch mehr aber war dies in Rußland seit Gortschakoffs erst faktischem, 
dann auch formellem Rücktritte von den Geschäften der Fall. Die 
Möglichkeit einer Allianz mit Frankreich wurde zwar auch nachher 
noch festgehalten, aber die inneren Zustände Frankreichs luden 
Rußland doch ganz und gar nicht dazu ein und ließen es für 
Rußland als einen zweifelhaften und unter Umständen sogar ge- 
fährlichen Alliirten erscheinen. Wenigstens die russische Regierung 
sah das sehr wohl ein. Allein und ohne Allianz war aber an einen 
Krieg mit Deutschland oder gar mit Deutschland und Oesterreich 
für Nußland wie für Frankreich kaum zu denken. Galt das für 
Frankreich, so mußte sich Rußland noch viel mehr sagen: bei einem 
Kriege mit Deutschland setzte es sehr viel aufs Spiel, um dagegen
	        
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