Uebersicht der politischen Entwichelung des Zahrts 1883. 435
geneigt, weder neue Zölle noch andere neue indirekte Neichssteuern
zu bewilligen. Der Reichskangler begnügte sich, ihm eine Erhöhung
der Holzzölle vorzuschlagen; sie wurde jedoch von kurzer Hand abgelehnt,
obgleich sie wenigstens einer gründlicheren Erwägung und einer un-
befangenen Enquete wohl wert gewesen wäre. Eine Erhöhung der
Getreidezölle, wie sie von der landwirkschaftlichen Vevölkerung immer
allgemeiner, lanter und nachdrücklicher verlangt wird, wagte er nicht
einmal vorguschlagen, da ihre Ablehnung von vorne herein zweifel-
los gewesen wäre. Die geplante Lizenzsteuer auf Tabak und Brannt-
wein wurde dem Kanzler schon im preußischen Abgeordnetenhause
im Keime erstickt und dies scheint ihm den Rut genommen zu
haben, mit irgend welchen anderen indirekten Reichssteuern im Reichs-
tage auch nur hervorzutreten.
Wenigstens etwas erfolgreicher war der Reichskanzler in diesem
Jahre auf dem Felde der sog. Sczialgesetzgebung, die ihm nicht
minder am Herzen liegt, bei der er sich aber gleichfalls vielfach in
Geduld fassen muß. Das ist indes, da er auf diesem ganz neuen
Gebiet, wo noch alle Erfahrung fehlt und jede Maßregel unaus-
weichlich ein bloßes Experiment ist, von allen Staatsmännern Eu-
ropas zuerst und allein umfassende Maßregeln angeregt hat, nur
natürlich, obgleich er darin auf die energischeste Unterstützung des
Kaisers, der dafür gewissermaßen seine ganze Persönlichkeit für den
Abend seines Lebens eingesetzt hat, rechnen kann. In der Reichs-
tagssession von 1883 hat er wenigstens das Krankenkassengesetz glück-
lich und mit großer Mehrheit unter Dach gebracht. Auch die zweite
Maßregel, das Unfallversicherungsgesetz, dürfte, in dritter Umarbei--
tung, in der Session von 1884 gleichfalls endlich zu stande kommen.
Die dritte Maßregel, ein Invaliden= und Altersversorgungsgesetz
für die Arbeiter, scheint dagegen innerhalb der Regierung, obgleich
es ebenfalls schon für die Session von 1884 als Vorlage ange-
kündigt wurde, noch nicht zu einem ausgearbeiteten Entwurfe ge-
diehen zu sein. Gut Ding will eben Weile haben und bis alle
drei Gesetze vereinbart sein und bis sie ins Leben treten und zu-
sammen werden funktionieren können, dürfte noch eine geraume Zeit
verfließen. Erst dann wird eine gewisse Grundlage für den Plan,
das Los des eigentlichen Arbeiters zu sichern und zu bessern, ge-
wonnen sein. Leider verhalten sich die Arbeiter selbst gegen den
Versuch fortwährend ziemlich gleichgültig und, so weit sie für die
Sozialdemokratie und ihre Führer gewonnen sind, sogar feindselig;
28“