Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

448 Uebersicht der politischen Entwichelung des Jahres 1883. 
Majorität der Rechten gar wohl ein. Die deutsche Linke zögert 
indes selber; denn der Schritt wäre verhängnisvoll und die weitere 
Entwickelung der Dinge ganz ungewiß. Er hätte auch nur einen 
Sinn und würde seinen Zweck auch nur dann erreichen, wenn er von 
allen deutschen Abgeordneten wie von Einem Mann gemacht würde 
und wenn die gange deulsche Bevölkerung hinter ihnen stände. 
Das aber wäre offenbar nicht zu gewärtigen und darum unter- 
bleibt er in der That besser, obwohl er im Jahre 1883 zweimal 
ganz nahe stand. 
Die Deutsch-Liberalen haben zur Zeit ihrer Herrschaft schwere 
Fehler gemacht und es ist die Frage, wie weit sie es selbst einzu- 
sehen gelernt haben. Mit einem Nadikalismus ohnegleichen haben 
sie immer wieder die Ministerien ihrer eigenen Partei gestürzt, bis 
sie am Ende wirklich regierungsunfähig erschienen. Und dann haben 
sie die Forderungen der Lage, welche durch die Stellungnahme auf 
der Balkanhalbinsel geschaffen worden war, durchaus verkannt. 
„Denn — so meint man wenigstens in Deutschland fast durchweg — 
trotz aller Hindernisse, welche sich einer Negierung nach dem Herzen 
des Grasen Taaffe entgegentürmen, darf nicht verkannt werden, daß 
die schwierige Stellung des Deutschtums in Oesterreich in der 
Weltlage des vielzüngigen Donaureichs einen tiefern Grund hat. 
Oesterreich ist für Europa wichtig als ein Stoßballen zwischen den 
mächtigen nationalen Einheitsstaaten Rußland und Deutschland. Es 
ist für Deutschland eine Lebensfrage, daß der Panfslavismus nicht 
zunächst auf der Balkanhalbinsel Oesterreich unterbinde, um schließ- 
lich auch die flavischen Stämme Oesterreichs in sein Bereich zu 
ziehen. Es liegt also im deutschen Interesse, daß die Kluft zwischen 
der östlichen und der westlichen Slavenwelt nicht ausgefüllt werde, 
daß vielmehr ein organisierter Kern der austroflavischen Hälfte ge- 
schaffen und gegen die Anziehungskraft des moskowitischen Pau- 
slavismus gefestigt werde. Denn wenn beide Ströme jemals zu- 
sammenrinnen sollten, wenn es jemals dazu käme, daß die weite 
Slavenwelt einem einzigen mächtigen Willen gehorchte, so würde 
das Deutschtum in der gewaltigen Umarmung zwischen Öst und 
West erzgittlern, auch wenn es von der Nordsee bis Triest einem 
einzigen Haupte diente. Dieser Gedanke ist die eherne Klammer, 
welche Deutschland an Oesterreich fesselt; ihn wird auch der öster- 
reichische Bruderstamm berücksichtigen müssen, wenn er wieder regie- 
rungsfähig werden will.“
	        
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