Uebersichl der politischen Enlwicielung des Zahres 1883. 4490
Auch in Ungarn regl sich der Slavismus und mit ihm der ungarn.
söderalistische Gedanle bereits mächtig. Dort war der Minister-
präsident Tisza, seit er die Negierung übernommen, eifrig bemüht
die Einheit des Staats und die Vorherrschaft des magyarischen
Elementes aufrecht zu hallen und bisher auch nicht ohne Erfolg;
das Jahr 1883 hat seinen Bemühnungen jedoch einen schweren Schlag
versetzt. Ein taktloser Übergriff der ungarischen Regierung führte
zu einem heftigen Konflikt mit Kroatien, der nur durch ein Nach-
geben der Regierung und des ungarischen Reichsiags vorläufig beigelegt
werden konnte und noch keineswegs gelöst erscheint. Kroatien ist und
bleibt vielmehr ein gefährlicher Pfahl im Fleische des ungarischen Ge-
samtstaatsgedankens. Und auch die Reaktion regie sich im Jahre 1883
in Ungarn wieder. Das Unterhaus beschloß nämlich mit großer
Majorität die Einführung der fakultativen Zivilehe, zunächst für
Ehen zwischen Juden und Ghristen, und durch eine Resolution die
Anbahnung der Zivilehe überhaupt. Das Oberhaus lehnte jedoch
den Beschluß seinerseits zu zweien Malen ab und stützte sich dabei
auf eine ziemlich intensive Agitation, die direkt auf den Sturg
Tisza's und der liberalen Regierungspartei ausging. Wie tief die
Agitation geht und was sie möglicher Weise vermag, werden erst
die allgemeinen Wahlen zum Unterhause im Jahre 1884“ klar legen.
Selbst im günstigsten Fall wird jedoch Tisza auf die Einführung
vuer Zivilehe in Ungarn und auf die so dringend notwendige Resorm
es Oberhauses wohl verzichten müssen.
So nahe uns auch die Entwickelung der inneren Zustände Fraur-
Hsterreichs liegt, in gewisser Beziehung liegt uns diejenige in Frank= reich.
reich doch noch näher. Deutschland hat sein inneres Gleichgewicht.
gesunden und wird von einer festen, sicheren, zielbewußten Hand ge-
leitet; in Frankreich ist weder das eine noch das andere der Fall.
Die Republik ist hier immer noch mehr eine vollendete Thatsache, Lie Ne-
aber mit nichten schon die definitive, wenigstens für alle absehbare publik.
Zukunft gesicherte Staatsfsorm. Die in diesem Jahre vorgenommenen
Wahlen haben zwar gegeigt, daß die Republik augenblicklich fest
steht und sogar Fortschritte macht, mehr und mehr an Boden ge-
winnt. Jede mehr oder weniger allgemeine Wahl in die Kammern,
zu den Generalräten der Departements, in den Gemeinden weist
einen Sieg der Republikaner und einen langsamen Rückgang ihrer
Gegner aus. Sieht man aber genauer zu, so ergibt sich, daß von
fünf Millionen Wählern, die sich an den Wahlen auch wirtlich be-
Schulthess, Europ. Geschichtölaleuder. XXIV. Bd.