Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierundzwanzigster Jahrgang. 1883. (24)

UNebersicht der polilischen Enlwickelung des Jahres 1887. 455 
bauten vertragsmäßig den großen Eisenbahn-Kompagnien zu über- 
binden, obgleich es auf der Hand lag, daß dadurch die in Frank- 
reich ohnehin übermächtige haute linance, an deren Spitze das Haus 
Rothschild steht, nur noch gestärkt, nur noch übermächtiger werden 
würde. Trotzdem wurden derartige Konventionen abgeschlossen und 
die Kammern genehmigten sie: ein großes Defizit im Budget für 
1884 konnte so vermieden werden und was noch trotzdem an Defizit 
übrig blieb, wurde geschickt bemäntelt. Das Kabinet Ferry war 
für die nächste Zukunft wieder gesichert. 
Will man nun auf Grund der Ergebnisse des Jahres 1883 nus- 
ein allgemeines Urteil über Frankreich versuchen, so wird man kaum schten. 
finden, daß Frankreich im Aufsteigen begriffen sei, eher das Gegen- 
teil. Der hauptsächlichste und vielleicht einzig wirkliche Fortschritt, 
den es seit der Wiederaufrichlung der Republik gemacht hat, liegt un- 
Aweifelhaft darin, daß dieses Regime den staatlichen Bolksschulunterricht 
im Grunde erst eingeführt, jedenfalls ganz gewaltig gehoben hat. 
Den zähen Widerstand, den die Kirche dieser Neuerung fortwährend 
entgegen setzt, hat es aber doch nicht zu brechen vermocht. Dieser 
Widerstand ist vielfach ein so unverhüllter und so weitgehender, daß 
die Regierung im Jahre 1883 dazu griff, eine Anzahl von Pfarrern 
mit der Entziehung ihres Gehaltes zu bestrafen und einen Beschluß 
des Staatsrates veranlaßte, daß dieselbe Maßregel eventuell auch 
auf die Bischöfe amvendbar sei. Dagegen protestierte nun der Papst 
als konkordatswidrig und setzte sich unter Umgehung der Regierung 
mit dem Präsidenten der Nepublik in Verbindung. Ferry, der Vater 
der ganzen Schulgesetzgebung, mußte stark einziehen: erst erhielten 
die Präfekten den Befehl, nicht weiter gegen Geistliche vorzugehen 
und schließlich wurden die Gehaltsentziehungen aufgehoben und selbst 
die vorenthaltenen Gehalte nachbezahlt. Das ist doch eine empfind- 
liche Niederlage, die weiter führen kann. Auch die Kolonialunter- 
nehmungen sind doch nur von bedingtem Werte, obgleich Ferry 
darin eine glückliche Hand zu haben scheint und Frankreich jeden- 
falls zu seinem Ziele kommen kann, wenn es mit Geld, Schiffen 
und Soldaten nicht spart. Allein es ist für Frankreich doch nur 
ein vielleicht bloß scheinbarer Machtzuwachs: diese Kolonien sind 
keine wahren Kolonien, da Frankreich wohl Präfekten u. dgl. aber 
keine Kolonisten hinzuschicken in der Lage ist. Das bedenklichste 
Moment jedoch liegt in dem plötzlichen Rückgang oder doch Still- 
stand der französischen Nationalwirtschaft, wenn er andauern sollte.
	        
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