94 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Sept. 22—24.)
Kolonialverein die Zustimmung des künftigen Reichstags zu der Dampfer-
subventionsvorlage wünscht, darüber wäre wohl niemand im Zweifel gewesen,
wenn auch die außerordentliche Generalversammlung nicht stattgefunden hätte.
Mit großer Spannung dagegen mußte man der Erörterung der eigent-
lichen Kolonialfrage entgegensehen. Eine endgültige Entscheidung darüber,
ob in den westafrikanischen Niederlassungen oder im Auschluß an dieselben
deutsche Ackerbaukolonien gegründet werden können, ist nicht erfolgt; aber
was die H.H. Woermann und Lüderitz in dieser Hinsicht mitgeteilt haben,
wird die übertriebenen Erwartungen erheblich herabstimmen. Hr. Woermann
erklärte ausdrücklich, an der Goldküste könne von solchen Gründungen nicht
die Rede sein. Hr. Lüderitz stellte bezüglich seiner Territorien die Frage
noch als eine offene hin, aber nur insofern, als die Ausbeutung der metallurgi-
schen Schätze des Bodens in Aussicht steht. Charakteristischer noch ist es,
daß eine Beschlußfassung der Generalversammlung über den Auschluß des
Vereins für deutsche Kolonisation gar nicht zur Entscheidung gestellt wurde.
Aber selbst die Frage der künftigen Gestaltung der Handelsnieder-
lassungen ist in Eisenach nicht erörtert worden, obgleich es von Interesse
gewesen wäre, gerade die Ansichten der H.H. Woermann und Lüderitz in
dieser Hinsicht kennen zu lernen. Die beiden westafrikanischen „Souveräne"“
haben ihrer Überzeugung von der Entwicklungs- fähigkeit ihrer Faktoreien
Ausdruck gegeben; die streitige Frage aber, ob sie glauben, mit ihren pri-
vaten Mitteln für die Verwaltung derselben und für die Aufrechterhaltung
der Ordnung und einer gewissen Rechtssicherheit einstehen zu können, haben
sie nicht einmal gestreift. Man hat, wie es scheint, Bedenken getragen, diese
Frage schon jetzt anzuschneiden.
22. September. (Preußen.) Der Handelsminister (Bismarck)
fordert durch ein Rundschreiben die Regierungspräsidenten dringend
auf, die Bildung von Innungen und Innungsverbänden nach dem
Gesetz vom 18. Juli 1881 in jeder Weise nachdrücklichst zu unter-
stützen.
24. September. (Deutsches Reich.) Thüringischer Kirchen-
tag in Gotha. Derselbe ist von mehr als 100 Teilnehmern unter
dem Vorsitze des Kirchenrats Prof. Dr. Lipsius aus Jena besucht
und genehmigt folgende vom Superintendenten Rudloff vorgeschlagene
und begründete Thesen über die „Gleichberechtigung verschiedener
Richtungen innerhalb der protestantischen Kirche“:
Die Gleichberechtigung versichiedener Richtungen innerhalb der
protestantischen Kirche ergibt sich aus den Prinzipien des Protestantismus
selbst, insofern durch den Grundsatz von der Rechtfertigung aus dem Glauben
allein die Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit jeder christlich-religiösen
Individualität gewährleistet und durch die Lehre von der alleinigen Auto-
rität der Heiligen Schrift der Entfaltung dieser Individualität der freieste
Spielraum gegeben ist. 2) Die Möglichkeit und Notwendigkeit einer solchen
Gleichberechtigung wird ferner erwiesen durch die historische Entwicklung des
Protestantismus, welcher den in ihm liegenden Wahrheitsgehalt in mehreren,
teils neben-, teils nacheinander hervortretenden und einander ergänzenden
Gestaltungen des religiösen Denkens und Lebens zur Erscheinung gebracht
hat. In jeder von diesen verschiedenen Richtungen wirkt die Macht der pro-
testantischen Idee, jede stellt sich uns dar als ein unentbehrliches Glied in