98 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. 1.)
werde sich aber von selbst herausbilden. Uber den Zweck des Ver-
eins geben sowohl der Präsident, Geh. Kommerzienrat Delbrück, als
der Referent Generalkonsul Russel einläßlich Auskunft:
Delbrück bezeichnet den dringenden Wunsch, den leidenschaftlichen
Bestrebungen entgegenzutreten, welche sich gegen die individuelle Erwerbs-
thätigkeit und die Grundlage derselben, das mobile Kapital richten, als die
erste Grundidee der Bildung des Vereins. Der Referent Russel hebt zu-
nächst die steigende Bedeutung der wirtschaftlichen Gesetzgebung und die
mangelnde Beachtung der Bedürfnisse des praktischen Lebens bei derselben
hervor. In dem letzten Dezennium sei durch den Kampf um Freihandel und
Schutzzoll das Verbindende zurückgetreten und der Gegensatz zwischen Handel
und Industrie durch das Hinzutreten politischer Momente verschärft. Hie-
durch seien die zwei wichtigsten Faktoren des wirtschaftlichen Lebens in einen
Gegensatz geraten, der sie veranlaßte, das Gemeinsame aus den Augen zu
verlieren. Durch die neuere Gesetzgebung sei die Solidarität der Interessen
aber mehr hervorgetreten. Zuerst sei die Steuergesetzgebung zu erwähnen,
welche mit dem unhaltbaren und reformbedürftigen Stempelsteuergesetz den
Handelsstand speziell berührt habe. Dieser Stand wird auch am besten an-
zugeben wissen, in welcher Richtung die Reform des Gesetzes vorzunehmen
ist. Eine viel bedeutungsvollere Strömung richtete sich darauf, eine in der
That tendenziöse Besteuerung eintreten zu lassen. Das Resultat war der
Geschäftssteuerentwurf, auf den Redner nicht weiter eingehen will; be-
deutungsvoll aber sei der Ideengang und die Beurteilung des Handelsstandes,
aus denen der Gesetzentwurf hervorgegangen sei. Der Entwurf will eine
bestimmte geschäftliche Thätigkeit, wie die Umsätze beim mobilen Kapital mit
einem prozentualen Stempel besteuern in dem irrtümlichen Glauben, daß an
der Börse die Agiotage und Spekulation die Hauptsache sei und daß die
dabei gewonnenen Vermögen durch die prozentuale Steuer getroffen werden
können; man erkenne dabei nicht, daß Handel und Verkehr in erster Reihe
getroffen werden. Vor allem würde man die Arbitrage Treffen, resp. ein-
schränken, welche die Wertausgleichung der Kurse an den Börsenplätzen und
dadurch auf internationalem Gebiete die Wertübertragung und Wertausglei-
chung herbeizuführen hat. Die Effekten- und Wechsel-Arbitrage hat es bei-
spielsweise möglich gemacht, daß gleichzeitig mit einer Einschränkung der Um-
laufsmittel die Goldwährung eingeführt werden konnte, ohne daß die von
den Bimetallisten vorhergesagten, in einer Verteuerung. des Goldes vermuteten
Übelstände für das wirtschaftliche Leben eintraten. Dieser Umstand war von
höchster Bedeutung für den verschuldeten Grundbesitz, das Hauptkontingent
der Agrarier; denn wäre die Befürchtung der Bimetallisten eingetreten so
hälten sie in teurem Golde ihre Schuld zurückzahlen müssen, d. h. der Wert
ihrer Besitzung wäre gesunken. Diese Folgen sind aber nicht eingetreten,
weil die Möglichkeit der Wertübertragung durch die Arbitrage gewachsen ist.
Wollte man diese Umsätze, die sich in verschiedenen Transaktionen vollziehen,
mit prozentualer Steuer belasten, so würde der Nutzen solcher Geschäfte be-
seiligt, und Unternehmungen werden unterbleiben, die uns vor finanziellen
Kalamitäten bewahren. „An die Unkenntnis und Mißachtung der hauptsächlich-
sten Bedingungen des wirkschaftlichen Verkehrs knüpft sich eine andere Strömung,
welche ihren Ausdruck in dem Schlagwort findet: „Die Börse muß bluten!"
Dieser Ausspruch erinnert an das Schutzgeld, welches gewissen Handeltreibenden
im Mittelalter auferlegt wurde, er entspringt aber in der Hauptsache dem Neide
und der sozialistischen Abneigung gegen das mobile Kapital überhaupt. Dieser
Haß hat sich, von einem Teil der konservativen Presse geschürt, in der Masse
des Volkes zu einer Abneigung gegen die besitzenden Klassen, gegen den Wohl-