Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. Anf. —6.) 99 
stand gestaltet. Der Referent verliest einige Stellen aus der „Kreuzzeitung“, 
welche, wie er sagt, an die schlimmsten Zeiten der französischen Revolution 
erinnern, in denen es genügte, ein reicher Mann zu sein, um verdächtig zu 
erscheinen. Der Haß konzentriert sich auf die Börse; an dieser aber setzen 
Kaufleute und Industrielle ihr Kapital in wirtschaftlichen  Transaktionen um, 
aber nicht die Spekulation; denn für diese ist es nicht notwendig, im Besitze 
von Kapital zu sein. In jenen Artikeln wird in haßerregender Weise auf 
diejenigen hingewiesen, welche in Ruhe ihre Renten verzehren, zwischen dem 
Rentner aber und dem Grundbesitzer, der vom Ertrage seiner verpachteten 
Güter lebt, ist kein Unterschied. Im ganzen setzt sich der  Deutsche nicht leicht 
zur Ruhe, in Deutschland wird viel und schwer gearbeitet. Das mobile Ka- 
pital wird von der Kreuzzeitungspartei so schwer angegrissen, wenn der Ge- 
schäftsmann aber seinen Erwerb in Grundbesitz anlegt, wird derselbe auf 
einmal als geheiligt betrachtet. In dieser Richtung, verbunden mit dem 
Antisemitismus, der neben dem Klassenhaß den Racenkampf anstachelt, wur- 
zelt die Strömung, welche sich als Neid der Besitzlosen gegen die Besitzenden 
kennzeichnet. Diese Strömung entspringt nicht dem praktischen Christentum, 
sie fördert nicht den sozialen Frieden, sondern es liegt in ihr die gefährlichste 
Aufreizung gegen die Grundlagen unserer Gesellschaft und Geslttung. Unsere 
Herrscher sind stets bestrebt gewesen, die Wohlfahrt des Volkes zu heben, 
dies kann aber in der Hauptsache nur durch das mobile Kapital geschehen. 
Die Bodenfläche des Staates kann nicht vergrößert, sie kann nur verbessert 
werden, was nur durch die Verwendung von mobilem Kapital möglich ist; 
das Kapilal muß aber erst erworben werden, und so ist jede Besserung auf 
materiellem und intellektuellen Gebiete nur möglich durch Zunahme des Ka- 
pitals und durch Verwendung desselben. Die Aufgabe des Vereins wird es 
sein, auf die Tragweite dieser, sich mit zerstörender Kraft gegen die Grundlage 
aller Besserung richtenden Agitation hinzuweisen und dieselbe zu bekämpfen." 
Anf. Okt. (Deutsches Reich.) Der rühmlichst bekannte 
Afrika-Reisende Gerhard Rohlfs tritt in den Dienst der deutschen 
Reichsregierung. Er soll sich am 15. d. M. nach der westafrika- 
nischen Küste einschiffen und zum Generalkonsul in Zanzibar an 
der Ostküste, an dessen Stellung unter deutsches Protektorat gedacht 
zu werden scheint, bestimmt sein. 
6. Okt. (Deutsches Reich.) Nachdem der Reichskanzler 
eine vollständige Einigung mit Frankreich erzielt hat, gehen unter 
diesem Tage die Einladungen zur Kongo-Konferenz in Berlin ab. 
In denselben wird betont, daß die Berufung der Konferenz auf einem 
Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich beruhe. Den 
Termin des Zusammentritts zu bestimmen, ist bis zum Eingang der Ant- 
worten auf die Einladung vorbehalten. Portugal hat inzwischen die Ein- 
ladung zur Konferenz angenommen. Die Verhandlungen mit England dau- 
ern fort. Die an der Konferenz nicht direkt interessirten Großmächte Italien, 
Rußland und Oesterreich sind, wie die direkt interessierten, ebenfalls schon zu 
Beginn der Konferenzverhandlungen eingeladen. 
Das Programm der Konferenz ist sehr einfach. Es beschränkt 
sich auf zwei Punkte. Erstens soll im ganzen Gebiete des Kongo die volle 
Handelsfreiheit für alle Nationen festgestellt und, wie eine Depesche Bis- 
marcks vom 13. September an Courcel hinzufügt, für die Schiffahrt auf 
dem Kongo und dem Niger das für die Donau angenommene System in 
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