Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

Die Oefterreichisch-Ungarische Honarchit. (Diai 9 —16.) 157 
9. Mai. (Oesterreich.) Reichsrat: wahrt mit großer Ma- 
jorität die von der Regierung und ihrem sog. objektiven Preßstraf- 
verfahren gefährdete Immunität der Berichterstattung über die Par- 
lamentsverhandlungen. 
Die Konfiskation einer Zeitung wegen des workgetreuen Abdruckes 
einer Parlamentsrede, die von zwei Gerichlsinstanzen bestätigt wurde und 
somit in Rechtskraft erwuchs, hat den Anstoß zu einer Aktion gegeben, welche 
von dem Vorstande der Vereinigten Linken aus SFgegangen ist. Der Anlaß zu 
derselben ist seither allerdings behoben worden; der Oberste Gerichtshof hat 
jene Erlenntnisse, welche die Beschlagnahme einer Parlamenterede bestätiglen 
und diese im objektiven Verfahren verurteilten, als Verletzungen des Gesetzes 
erklärt, und hat in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise verkündet, daß 
wegen der wahrheitsgetreuen Milteilung einer Parlamentsverhandlung, mag 
diese unverkürzt oder auszugsweise publiziert werden, weder eine subjektive 
noch eine objeltive Verfolgung platzgreifen könne. Trot dieser Eutscheidung 
des obersten Forums hat der Strafgesehausschuß eine Abänderung des § 28 
vorgeschlagen, die sich von der bisherigen Textierung in zwei Punkten zunter. 
scheidet. Es wird zunachst ausdrücklich festgestellt, daß auch die aus. Zugs- 
weisen Mitteilungen der Parlamentsverhandlungen die Immunität genießen, 
und dann wird der Möglichkeit der objektiven Verfolgung dadurch vorzu- 
beugen gesucht, indem bestimmt wird, daß die Mitteilung von Parlaments- 
verhandlungen überhaupt niemals eine strafbare Handlung begründen könne. 
Thatsächlich enthält das vom Reichsrat beschlossene Gesetz nichts, was nicht 
bereits der § 28 des Preßgesebes mit größter Präzision normiert hätte. 
Der angenommene Gesetzentwurf gewinnt nur dadurch seine besondere Bedeu- 
tung, daß in der Debatte die Ansicht und Absicht des Gesetgebers mit aller 
Bestimmtheit klargestellt wurde. 
13. Mai. (Oesterreich.) Die strafgerichtliche Untersuchung 
gegen die Anarchisten Stellmacher und Kammerer ist abgeschlossen. 
Der Staatsanwalt erhebt gegen Stellmacher Anklage wegen Meuchel- 
mordes an dem Detekiiven Blöch und wegen Mordversuches an dem 
Arbeiter Meloun. Bezüglich der in Deutschland begangenen Ver- 
brechen kann Stellmacher, welcher Ausländer ist, in Oesterreich nicht 
belangt werden. Kammerer wird als Deferteur dem Militärgericht 
überantwortet. « 
13. und 14. Mai. (Oesterreich.) Reichsrat: Infolge einer 
nach ihrer Ansicht unzulässigen Abstimmungsweise bleibt die gesamte 
Linke zwei Tage lang den Verhandlungen fern. Präsident Smolka 
gibt ihr indes eine gewisse Genugthuung, worauf sie wieder im 
Reichsrat erscheint. Die Rechte fühlt sich dadurch wieder erleichtert. 
15 Mai. (Ungarn.) Im Preßprozeß gegen den Anarchisten 
Prager bejaht die Jury fast sämtliche Schuldfragen. Der Ange- 
klagte wird zu fünfzehnmonatlichem Staatsgefängnis, 600 Gulden 
Geldstrafe und Tragung der Gerichlskosten verurteilt. 
16.—23. Mai. (Oesterreich.) Reichsrat: Veratung des Ge-
	        
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