Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 29.) 15 
schwebe noch immer das Damoklesschwert der Ausweisung und des Kirchen- 
gerichtshofes. Windthorst richtet die direkte Frage an den Minister, ob er 
noch im Laufe der Session Vorschläge wegen der Revision der Maigesetze zu 
machen beabsichtige. Reichensperger (ultram.) führt aus, die Katholiken 
hätten zu der ihnen zuteil gewordenen Behandlung keinen“ Anlaß gegeben, 
und verlangt zu wissen, was die Regierung zu thun beabsichtige, um den 
Katholiken ihr gutes Recht wieder zu geben. Frhr. v. Hammerstein (konserv.) 
bemerkt, die Konservativen könnten nicht früher zu einer organischen Revision 
der Maigesete Stellung nehmen, als bis das Zentrum oder die National- 
liberalen eine genaue Darlegung der Richtung der Revision gegeben hätten. 
Der Kultusminister erwidert, die Stellung der Regierung gegenüber der 
Revision der kirchlichen Gesetzgebung ergebe sich aus der Note vom 5. Mai 
1883 und seinen vorjährigen Erklärungen; Zu weiteren Erklärungen glaube 
er im Moment nicht berechtigt zu sein. Seine Sorgfalt für die Interessen 
der Studierenden der katholischen Theologie habe er durch die Berufungen 
für Breslau  und Bonn bewiesen. Was die Rückberufung Ledochowskis be- 
treffe, so würde durch dieselbe die Herbeiführung des kirchlichen Friedens ge- 
fährdet; hierin könne die Regierung durch die bezüglichen Wünsche der Diözese 
nicht  beirrt werden. Man sehe seitens der Polen in Ledochowski noch immer 
den Primas, wie dies die polnische Presse noch bei der letzten Geburtstags- 
feier Ledochowskis betont habe. Der Minister verliest einen Passus aus der 
Adresse an Ledochowski, worin die Würde des Primas auch als politische 
bezeichnet ist, in welchem die Polen ihren lnterrex erblicken. Hieraus folge, 
daß man die Kundgebungen der Diözesanen nicht so harmlos auffassen dürfe. 
Die Regierung sei verpflichtet, hier die Augen offen zu behalten: die Polen 
selbst müssen dafür sorgen, daß solche Kundgebungen unterbleiben. Frhr. 
v. Schorlemer-uuAlst (ultram.) bemerkt, wenn die Haltung der polnischen 
Bevölkerung der Grund sei, den Exzbischof nicht zurückzuberufen, so werde 
die Diözese dauernd verwaist bleiben, da die polnische Bevölkerung jedem 
Bischofe jene politischen Rechte zuschreibe; die Aufforderung an das Zentrum 
und die Nationalliberalen, sich über die Richtung einer organischen Revision 
auszusprechen, charakterisiere sich als Vorschlag zu einem Geschäft, auf welches 
das Zentrum nicht eingehen könne. Frhr. v. Hammerstein konstatiert, es 
sei ihm völlig ernst mit der Aufforderung an die Nationalliberalen gewesen, 
da er nach den Schwankungen der „Köln. Ztg.“ auf eine Änderung der An- 
schauungen der Partei gerechnet; da nun diese Partei bei ihrer früheren 
Haltung verbleibe, müsse er das Zentrum, welches seine Haltung von Rom 
abhängig mache, auffordern, seinen Einfluß auf Rom geltend zu machen, da- 
mit man von dort die Grundsätze für eine organische Revision erfahren könne. 
Windthorst bezeichnet die Antwort des Ministers als einen Orakelspruch; 
denn die beiden vom Minister angezogenen Erklärungen behandeln verschiedene 
Dinge; er dringe aber auch nicht auf eine umfassende Auskunft. Das Zen- 
trum werde in der  bisherigen Weise vorgehen und zusehen, wer mit ihm 
gehe; eventuell werde es allein vorgehen. Die Konservativen würden gern 
nähere Vorschläge für die Revision der Maigesetzgebung machen, wenn sie 
wüßten, ob man in Friedrichsruh den Frieden wolle. Frhr. v. Schorlemer 
bemerkt, das Zentrum sei in seinen Abstimmungen völlig unabhängig von 
Rom; man möge die Unfreiheit der Kirche beseitigen und das Unrecht durch 
Recht ersetzen, das wäre die richtige Revision, v. Eynern (nat.-lib.) bemerkt, 
die Konservativen würden lange warten müssen, bis die Nationalliberalen 
die Initiative zu der Revision der Maigesetze ergriffen; die Verantwortung 
dafür wollten sie auch nicht den Konzervativen, sondern der Regierung über- 
lassen. Frhr. v. Hammerstein konstatiert, daß die Nationalliberalen ihre 
Mitwirkung zur Erreichung des kirchlichen Friedens versagten. Enneccerus
	        
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