520 Kebersicht der polikischen Enkwichelung des Jahres 1884.
bekommen, was ihm wohl auch gelingen wird. Ueber seine inneren
Zustände weiß man leider nur wenig Zuverlässiges. Soviel ist
sicher, daß die absolute Alleinherrschaft des Kaisers auf die Dauer
kaum aufrechtzuerhalten sein wird, obgleich es bis jetzt noch ge-
lungen ist; dazu ist das Reich viel zu groß und die Bureaukratie
viel zu korrupt. Das gewaltige Reich wird im Innern fortwährend
von allerlei Strömungen durchzuckt und aufgewühlt, die nach Ge-
staltung ringen, welche sie allerdings bis jebzt noch nicht gefunden
haben, zumal sie sich teilweise untereinander paralysieren.
Telgien. Eine der merkwürdigsten Erscheinungen des Jahres 1884 bot
Belgien dar. Ziemlich unerwartet unterlag die bisher am Ruder
gewesene gemäßigt liberale Partei unter Frôre Orban bei den Er-
neuerungswahlen zur Kammer und zum Senat gänzlich und ver-
wandelte sich die bisherige liberale Majorität in beiden in eine
ultramontane. Der Umschwung war ein derartiger, wie er voll-
ständiger kaum gedacht werden konnte. Die Ursache wird in dem
Defizit gesucht, das die liberale Regierung nicht zu decken vermochte,
und in der Uneinigkeit der liberalen Partei, deren radikale Elemente
sich trotz der Schwierigkeiten der Lage der befsonneneren liberalen
nicht unterguordnen vermochten. Das liberale Kabinet Frôre Orban
nahm sofort seine Entlassung; es wurde vom König durch ein ultra-
montanes ersetzt, und zwar ein so scharf ausgesprochenes, daß
neben Malou als Ministerpräsidenten gerade die hitzigsten ultra-
montanen Führer darin ihren Platz fanden. Dasselbe ging dem-
gemäß auch ebenso rasch als energisch vor. In erster Linie legte
es den Kammern einen Gesetzentwurf vor, der die staatliche Volks-
schule mit Einem Schlage wieder abschaffte und das ganze Volks-
schulwesen den Gemeinden d. h. in den weitaus meisten Fällen der
Kirche und der Geistlichkeit überantwortete, die davon auch ohne
Verzug den ausgedehntesten Gebrauch machten, sobald es von den
Kammern angenommen war, was keinerlei Anstand fand, wenn
auch die liberale Minorität in beiden dagegen ankämpfte. Das
neue Schulgesetz war so durchgreifend, daß von dem, was wir Schul-
bildung nennen, eigentlich gar keine Nede mehr war: ein bischen Lesen,
Schreiben und Rechnen ist alles, was verlangt, aber auch alles, was
gestattet wird; alles weitere ist aus dem Bösen. Belgien sollte zu einem
förmlichen Kirchenstaate gemacht werden, in dem der Staat der Kirche
völlig untergeordnet wird und ihm nur das überlassen bleibt, was die
Kirche nicht wohl felbst besorgen kann. Es entwickelte sich so ein