90 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 11.— 13.)
schen Gegenkonzessionen beträfen hauptsächlich Finanzzölle auf Südfrüchte,
welche Zollintraden von noch nicht 40,000 M repräsentierten. Nach dieser
Mitteilung wird der Roggenzoll im Betrage von 3 M mit 187 gegen 139
Stimmen angenommen.
In Bezug auf die Getreidezölle sind nunmehr im ganzen 3240 Peti-
tionen eingegangen, es haben sich 236,800 Unterschriften für die Erhöhung
und 244,200 Unterschriften gegen die Erhöhung ausgesprochen.
In der Sitzung vom 11. Mai erwidert der Reichskanzler dem
(welfischen) Abg. von der Decken: Die Rede, die der hannoversche Herr
Abgeordnete soeben gehalten hat, hätte von jedem Sozialdemokraten hier,
glaube ich, auch gehalten werden können, ohne gegen die sozialdemokratische
Theorie anzustoßen, und Herr von der Decken hätte seine Argumentation
durch sehr viele der Gründe, die der Herr Abgeordnete Stolle anführte, noch
unterstützen können, ohne aus der Rolle zu fallen. Es war eine gewisse
Abneigung gegen Verbesserung der Lage der Großgrundbesitzer bei beiden.
Wenn auch gewiß von ganz verschiedenen Motiven ausgehend, vereinigen sie
sich doch wiederum in der Besorgnis, die Regierung, die Zentralisation zu
stärken. Ja, beide Redner haben, glaube ich, wenn sie ihre Ideale verwirk-
lichen wollen, das Interesse, die Regierungsgewalt zu lockern; sowohl die
sozialdemokratischen Ideale als auch die Herstellung des Königreichs Han-
nover, die der Herr Vorredner noch in diesem Augenblicke als sein und
seiner Wähler Streben bezeichnete, werden sich ohne Erschütterung der be-
stehenden Zustände nicht erreichen lassen. Ich finde es also natürlich, wenn
man dieses Bestreben einmal vor Augen hat, wenn man sich davor fürchtet,
unsere Institutionen zu konsolidieren durch Stärkung des Reiches und seiner
Gewalt, daß man dann sich auch vor einer Verbesserung unserer wirtschaft-
lichen Einrichtungen scheut und sich ihrer zu erwehren sucht, der eine aus
sozialdemokratischen Gründen, der andere aus welfischen; beide kommen in
dem Ziele zusammen: man muß die Regierung verhindern zu erstarken. Ich
lasse mich durch die Form des Vortrags, die ja in Ton und Ausdrucksweise
bei dem letzten Herrn Redner sehr viel anmutender war als bei dem vorher-
gehenden (Heiterkeit), nicht irre machen; die Tendenz ist genau dieselbe und
auch die Neigung, den Dingen Seiten abzugewinnen, die sie für Leute, welche
ohne Vorurteil, ohne Tendenz sie beurteilen, absolut nicht haben können.
Ich bedaure, daß Sie noch immer mit der Unbefangenheit, wie der Herr
Vorredner es that, an Ihren Bestrebungen festhalten und sie offen bekennen.
Es sind jetzt 19 Jahre vergangen, daß die jetzigen Verhältnisse, welche die
Basen des deutschen Reiches und unserer jetzigen Einrichtungen bilden, bestehen.
Wenn ich zurückdenke an meine Jugendzeit, so waren 1834 oder 1835 un-
gefähr 19 Jahre vergangen nach der Teilung Sachsens, die auch ein Ergebnis
von kriegerischen Ereignissen war. Gegen das Verhalten des damaligen
Königs von Sachsen, sobald man vom nationalen, vom deutschen Standpunkt
absieht und ihn rein in seiner Eigenschaft als den ersten der Sachsen be-
trachtet, berufen, die Vorteile der sächsischen Gemeinschaft und die Ehre der
Sachsen zu vertreten, — gegen das Verhalten des damaligen Königs von
Sachsen vom Standpunkt der Moral und Ehre kann man nichts einwenden.
Nichtsdestoweniger ist er das Opfer des Krieges gewesen mit der Hälfte
seines Landes, das Land blieb nicht zusammen, es wurde zerrissen. Dennoch
hatten 1834 oder 1835 die Einwohner des preußischen Sachsen sich vollständig
mit ihrem Geschicke befreundet, sie hatten sich darein gefunden, und es dachte
keiner daran, für die Wiederherstellung der alten Verbindung, für die Los-
reißung dieser Provinz von Preußen zu konspirieren; noch weniger fiel es
einem ein, sich offen dazu zu bekennen und auf die Gefahr hin, im gesamten
Vaterlande Umsturz, Unglück und Verwirrung anzurichten, einseitig das zu