Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 28.) 99
Nation. Dadurch ist jener vollberechtigte Kulturkampf hervorgerufen wor-
den, welcher freilich oft mißverständlich genug als eine prinzipielle Todfeind-
schaft zwischen Staat und Kirche, Bildung und Christentum aufgefaßt wird.
Gerade dieser geflissentlich zur Schau getragene Widerspruch der Kirche gegen
alles, was moderne Bildung, Wissenschaft und politische Freiheit heißt, hält
nicht nur viele der edelsten und gebildetsten Glieder unseres Volkes von einer
freudigen Beteiligung am kirchlichen Leben ab, sondern erzeugt leider in den
weitesten Kreisen eine tiefe, wenn auch aus politischen Rücksichten zur Zeit
nicht demonstrativ auftretende Verbitterung gegen das Christentum, ja gegen
die Religion überhaupt, während die chikanösen und doch so schwächlichen
Kirchenzuchtsversuche der tonangebenden Kirchenregierungen den Spott der
Welt herausfordern. 2) Diese traurige Entwicklung wäre aber wenigstens
in der protestantischen Kirche unmöglich gewesen, wenn nicht gerade unter
dem im wissenschaftlichen und politischen Leben tonangebenden Teile der
Nation schon seit lange her eine unvergleichliche Lauheit, Unklarheit und
Unsicherheit in der Behandlung aller religiösen Fragen geherrscht und sich
infolge davon ein höchst beklagenswerter Mangel an religiöser Überzeugungs-
treue und Charakterfestigkeit bemerkbar gemacht hätte. So hat der innere
Zwiespalt zwischen moderner Bildung und kirchlicher Frömmigkeit bereits in
Hunderttausenden die Kraft und Einheit einer festen Glaubensüberzeugung
zerstört — ein Schaden, der durch die vielleicht recht wohl gemeinte Pro-
tektion eines möglichst massiven Kirchenglaubens von seiten der höchsten Ge-
sellschaftskreise ebenso wenig verdeckt und geheilt werden wird, als durch die
lärmenden Demonstrationen sogenannter christlich-sozialer, antisemitischer und
ultramontan-demokratischer Volksmassen. 3) Deßhalb erheben wir, trotz der
unverdrossenen und leider nicht ganz erfolglosen Verlästerung unseres Ver-
eines, auch heute noch einmal unseren Ruf an alle Glieder unseres Volkes,
welche nicht zum voraus an einer Einheit der geistigen Bildung, an einer
Versöhnung der deutsch-nationalen Bildung mit echt christlicher Frömmigkeit
verzweifeln, und bitten sie dringlich, sich nicht fernerhin der Erkenntnis der
furchtbaren Tragweite dieses inneren Zwiespaltes unseres nationalen Lebens
zu verschließen, sondern allen Ernstes. mit uns auf dessen wirkliche Heilung
bedacht zu sein. Dazu scheint uns aber dreierlei unentbehrlich: a) Daß ge-
rade die Gebildeten und freier Denkenden unserer Glaubensgenossen sich ernst-
licher bemühen sollten, über das wahre Wesen der Religion und Kirche und
ihre persönliche Stellung zu denselben zu größerer Klarheit zu kommen, um
in der Erfüllung ihrer religiösen Pflichten und Rechte eine größere Wahr-
haftigkeit und Charakterfestigkeit bewähren zu können, als wir es heutzutage
leider bei vielen „unkirchlich" wie bei vielen „strengkirchlich“ Gesinnten fin-
den, und insbesondere auch die Ausübung ihres protestantischen Bürgerrechtes
in unserer Kirche mehr als bisher als eine heilige Gewissenspflicht zu er-
kennen. b) Daß die Geistlichen und Theologen unserer Kirche sich nicht
gleichsam als bestellte Advokaten derjenigen Bekenntniskirche betrachten, in
welcher sie nun einmal geboren und erzogen sind, und deren zum Teil ver-
altete Vorschriften und Lehren sie mit allen denkbaren Künsten gegen den
Geist der Zeit, die Zweifel der Vernunft und die Resultate der modernen
Wissenschaft verteidigen zu müssen glauben. Möchten sie immer mehr er-
kennen, daß es vielmehr ihre Aufgabe ist, dasjenige Christentum, welches
älter ist als alle seine Formulierungen und alle Bekenntniskirchen, als den
allen Kirchengemeinschaften gemeinsamen Wahrheitsgrund zu verkündigen,
denselben mit den seit der Reformation so reichlich gewonnenen Einsichten
der modernen Bildung in harmonische Verbindung zu setzen, und sich mit
und unter einander zu verständigen, anstatt sich gegenseitig zu verdächtigen
und zu verketzern. c) Daß jeder Deutsche dankbar gegen die in unserem
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