Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 8.— 9.) 5
entschädigung kann teilweise in Naturalien geleistet werden. Die Genossen-
schaften sollen lediglich geographisch abgegrenzt werden und sollen von der
Ansammlung eines Reservefonds dispensiert sein, da die Gefahr eines Ver-
falls- einer landwirtschaftlichen Genossenschaft nicht wie bei den industriellen
vorliege.
8. Januar. (Auswanderungs-Debatte.) Reichstag: Be-
ratung des Etats des Reichsamts des Innern. Bei dem Kapitel
„Überwachung des Auswanderungswesens" entspinnt sich eine lebhafte
Debatte zwischen dem Reichskanzler und Mitgliedern der deutsch-
freisinnigen Partei über die Wirkung der Schutzzollpolitik auf die
Auswanderung, in welcher der Reichskanzler ankündigt, daß Preußen
im Bundesrat einen Antrag auf Erhöhung der Getreidezölle ein-
bringen werde.
Der Reichskanzler verteidigt den Satz, daß die steigende Aus-
wanderung nicht ein Zeichen von einer ungünstigen wirtschaftlichen Lage sei,
da die Voraussetzung der Auswanderung sei, daß die Auswanderer in der
Heimat in der Lage gewesen seien, Ersparnisse zu machen zur Bestreitung
der Kosten der Überfahrt. Dem Abg. Richter erwidert der Reichskanzler:
„Der Herr Vorredner hat damit geschlossen, daß er die Regierung beschuldigte,
bei ihren Steuervorlagen die Absicht zu haben, den Besitzlosen zu belasten
zum Vorteil des Besitzenden. Es ist dies eine der großen Unwahrheiten, die
im Interesse der Fraktionspolitik (Unruhe links) und der Bekämpfung der
Regierung (Bravo! rechts) durch das Land gehen, und deren häufige Be-
hauptung und Wiederholung mit dem emphatischen Ton der Überzeugung
den Behauptenden von jeder Beweislast dispensieren. Wenn man das in
einer öffentlichen Versammlung recht fest mit der nötigen Stimme ausruft
und das täglich mehrmals wiederholt, so semper aliquid haeret. Es ist
aber gerade das Gegenteil wahr: die Bemühungen der Regierung sind nicht
darauf gerichtet, den Besitzlosen zu belasten, sondern darauf, den Besitzlosen
mitsamt dem Besitzenden vor dem Ruin zu schützen. (Sehr richtig! rechts.)
Der Ruin zu Gunsten des Auslandes tritt bei uns dann ein, wenn wir die
Majorität der Bevölkerung, die von der Landwirtschaft lebt, wie die
statistischen Nachrichten das zeigen, — in die Lage setzen, die Landwirtschaft
nicht mehr betreiben zu können; dann verliert diese Majorität die Kaufkraft
gegenüber der städtischen Minorität, und die städtische Minorität geht auch
zu Grunde; der Arbeiter mit seinem wohlfeilen Brot verhungert, während
wir ihn durch Lohnerhöhung und durch Hebung der Wohlhabenheit des Ge-
samtstaates in die Lage setzen wollen, zu leben, und wohl zu leben. Das ist
die Kehrseite von der Unwahrheit, die aus politischem Agitationsbedürfnis
unter den urteilslosen Leuten verbreitet wird, und ich bedaure, daß der Herr
Vorredner dieser Ansicht wieder Ausdruck gibt; es ist mir aber lieb, weil
es mir Gelegenheit gibt, auch die Kehrseite dem entgegenzustellen."
9. Januar. (Kolonialpolitik.) Reichstag: weist die For-
derung von 150000 M „Beihilfe zur Beförderung der auf Erschließung
Zentral-Afrikas und anderer Ländergebiete gerichteten wissenschaftlichen
Bestrebungen", welche in der Kommission auf 100000 M herab-
gesetzt war, trotzdem der Reichskanzler die Bewilligung der ganzen
Summe mit Rücksicht auf die Kolonialpolitik lebhaft befürwortete