Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Erster Jahrgang. 1885. (26)

IIIIIIIIIIIII (Oktober 21.—22.) 223 
Selbständigkeit zu erhalten, so habe ich jetzt nach Wörth wenigstens das Be- 
wußtsein, daß meine Enkel Deutsche und nicht Czechen werden.“ Auch wir, 
meine Herren, sind der Uberzeugung. Mag der Druck gegen uns noch größer 
werden, mögen die Fügungen des Schicksals kommen, wie fie wollen, mag 
dieses alte deutsche Osterreich, das uns lieb und teuer war, zergliedert und 
in Trümmer geschlagen werden, eine Uberzeugung haben wir: Auch wir 
werden Deutsche bleiben und nie Czechen werden; denn lieber deutsch 
sterben als czechisch verderben.“ (Stürmischer anhaltender Beifall und 
Händeklatschen links. Redner wird vielseitig beglückwünscht.) 
Der Ministerpräsident verteidigt den Statthalter von Böhmen, der 
seines Amts in durchaus unparteiischer Weise walte; er bestreitet die Rich- 
tigkeit der vom Abg. Knotz behaupteten nationalen Exzesse in der Armee 
und wirft zum Schluß der Linken vor, daß sie mit Gewalt den nationalen 
Zwist in die Armee trage. Diese letzte Außerung ruft stürmische Proteste 
in der Opposition hervor. Abg. Plener verlangt, daß der Minister seine 
Worte zurücknehme; Knotz wirft dem Minister absichtliche und unwürdige 
Verdrehung seiner Worte vor. 
Der Präsident lehnt die von der Linken unter heftigem Tumult ge- 
forderte Erteilung des Ordnungsrufs gegen den Ministerpräsidenten ab, und 
motiviert am folgenden Tage diese Entscheidung damit, daß ihm nur den 
püIsgorpneten, nicht aber den Ministern gegenüber die Disziplinargewalt 
zustehe. 
Die Sitzung ist eine der aufgeregtesten und stürmischsten, welche je im 
Abgeordnetenhause stattgefunden haben. Verschiedene deutsch-liberale Blätter 
werden wegen ihrer Besprechung derselben konfisziert. 
21. Oktober. (Österreich.) Abg.-Haus: Abstimmung über 
die Adreßentwürfe. 
Dem Hause liegen zwei Entwürfe vor. Der Adreßentwurf der Mehr- 
heit, welcher von dem czechischen Abgeordneten Zeithammer verfaßt ist, kenn- 
zeichnet sich durch föderalistischen Grundzug und stellt die Kräftigung der 
Autonomie der einzelnen Länder in den Vordergrund. 
Der vom Abg. Sturm verfaßte Adreßentwurf der deutsch-liberalen 
Minderheit unterzieht das bisherige Wirken der Regierung und ihrer Mehr- 
heit einer sehr scharfen Kritik, ohne Rücksicht darauf, daß die Thronrede 
jeder Erörterung der innern Lage ausgewichen war; er entwirft ein düsteres 
Bild der staatlichen Zustände und sieht in der Weiterverfolgung der jetzigen 
Politik der Regierung die Umwandlung Osterreichs in ein flawisch-födera- 
tives Staatswesen. 
Bei der namentlichen Abstimmung wird der Entwurf der Minderheit 
mit 194 gegen 129 Stimmen abgelehnt und derjenige der Mehrheit mit 177 
egen 146 Stimmen angenommen. Die Demokraten und Antisemiten ent- 
sernen sich bei der Abstimmung über den Entwurf der Minderheit, stimmen 
dann aber bei der Abstimmung über den Adreßentwurf der Mehrheit gegen 
diesen; die südtirolischen Abgeordneten entfernen sich bei der Abstimmung 
über den Entwurf der Mehrheit. 
22. Oktober. (Österreich-Ungarn.) Eröffnung der Dele- 
gations-Session in Wien. 
Das gemeinsame Budget weist einen Gesamtaufwand von 122,61 Mil- 
lionen (gegenüber 122,1 Millionen für das laufende Jahr) auf. 
Die österreichische Delegation wählt den Grafen Falkenhayn, die unga- 
rische den Kardinal Haynald zum Präsidenten.
	        
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