Nebersicht der politischen Eutwichelung des Jahres 1885. 435
Bahnen kommen und zu unübersehbaren Verwickelungen führen
mußte.
Die Großmächte standen zunächst sämtlich dem Unternehmen
feindlich gegenüber. Denn bei allen überwog das Unbehagen,
daß die gefährlichste der europäischen Fragen, deren Lösung
nach der herrschenden Auffassung ohne einen europäischen Krieg
sich nicht ermöglichen läßt, wieder in Fluß gebracht wurde und
so der Friede Europas um „einiger unzufriedener Intriganten“
willen in Frage gestellt werden sollte; sämtliche Kabinette waren
daher zunächst geneigt, der ganzen Bewegung dadurch ein Ende zu
machen, daß durch den moralischen Einfluß des gesamten Europa
Fürst Alexander zur Beobachtung des Berliner Vertrages ange-
halten werde. England regte sogar zuerst einen Schritt der Groß-
mächte in diesem Sinne an. Indessen bald schlug die Stimmung
um; sobald man in England bemerkte, daß Rußland nicht hinter
der Bewegung stehe, sondern dieselbe im höchsten Grade mißbillige,
verließ England diesen Standpunkt und nahm entschieden für die
Herstellung der Union in irgend einer Form und für die Person
des Fürsten Alexander Partei. So ergab sich das merkwürdige
Resultat, daß Rußland und England die Rollen, welche sie auf
dem Berliner Kongreß gespielt hatten, vollständig tauschten. Eng-
land wurde der Vorkämpfer des einheitlichen Bulgariens, zu dessen
Bekämpfung es im Jahre 1878 um ein Haar das Schwert ge-
zogen hätte; Rußland setzte alle Mittel in Bewegung und selbst
seine Popularität in Bulgarien aufs Spiel, um die Wiederher-
stellung des status quo ante, die Aufrechterhaltung des Berliner
Vertrages durchzusetzen, des Vertrages, dessen Abschluß es noch
bis vor kurzem als eine schwere diplomatische Niederlage beklagt
hatte. Die Erklärung dieses Rollenwechsels ist bereits oben ge-
geben: England hatte sich überzeugt, daß ein starkes Bulgarien
nicht ein vorgeschobener russischer Posten, sondern ein erhebliches
Hindernis auf dem Vormarsche Rußlands nach Konstantinopel sei.
Osterreich verteidigte gleichfalls die Erhaltung des Berliner gerbien
Vertrages, im wesentlichen um Serbiens willen. In Serbien und und
Griechenland ist das einzige treibende Motiv der auswärtigen mo
Politik: der Wunsch nach Länderzuwachs. Beide Königreiche sind tand.