Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierter Jahrgang. 1888. (29)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April Anf.—Mitte.) 79 
„Die reaktionären Kreise — bis weit in die Reihen der National= 
liberalen hinein — hatten die Möglichkeit, daß Kaiser Friedrich noch das 
Zepter der Regierung in die Hand nehmen könnte, gar nicht in Rechnung 
gezogen, und sie sind daher sehr enttäuscht. Ein Hauptträger der Klätschereien 
war das Berliner Schloßgesinde und zwar von hoch oben bis tief unten 
herab. Das pries die Güte des alten Herrn, unter dem es sich im besten 
Falle die Beine in den Leib gestanden, sonst auf dem Faulbett gelegen hatte. 
Unter dem neuen Regime kam Leben auch in diese Gesellschaft. Kaiser 
Friedrich will nicht ein zahlreiches Hofschranzentum, das tagaus, tagein nichts 
zu tun hat, sondern er will in allen Zweigen eine kleine Zahl von Leuten, 
die gut bezahlt werden, aber dafür tüchtig arbeiten müssen. Und Kaiserin 
Viktoria hat dem Hofgesinde von jeher immer tüchtig auf die Finger und 
auf die — Taschen gesehen. In ihrem Dienst hat man's nicht leicht. 
Nun werden die Hofschranzen im Schloß ein wenig auf den Trab gebracht; 
und sie erzählen mit bitterbösen Redensarten, es sei im Schloß nun gar nicht 
mehr schön, am liebsten möchten sie ihr ganzes Amt hinwerfen — wenn nur 
nicht ein gutes Stück Brot daran hinge, um das zu erwerben sie bis jetzt 
sehr wenig zu tun brauchten. Und daß sie nun auch so redlich arbeiten 
sollen, wie andere Leute, auch das scheint ihnen eine unerhörte Zumutung. 
Es ist ja nur ein Glück, daß für Berlin die Hofgesellschaft nicht alles ist, 
wie in manchen kleinen Residenzen, wo sie allein den Ton angibt. Aber 
es gibt unter den Leuten, besonders unter den zahlreichen pensionierten 
Beamten und Militärs, doch auch in Berlin sehr zahlreiche Elemente, die 
glücklich sind über jedes Wort, welches sie vom Hofe auffangen. Bei 
diesem Teile der „Berliner Gesellschaft“ tritt wahrhaftig weit mehr Dumm- 
heit als Bosheit zu Tage. Daneben, nur noch mit weit mehr Eifer und 
Bosheit, ging dann die ganze antisemitisch-reaktionäre Kohorte zu Werke. 
Gegen Kaiser Friedrich wagt sich das schwarze Nachtgeschmeiß geradezu nicht 
gern heran. „Unser Fritz“ hat denn doch ein gar zu großes Kapital von 
Verdiensten und dadurch von Liebe und Treue angesammelt, als daß man 
das so in kurzer Zeit zerstören, vernichten könnte. Wo Kaiser Friedrich 
und Kaiserin Viktoria sich zeigen, jubelt ihnen des Volkes Herz entgegen. 
Und das schwarze Nachtgezücht und seine Förderer wird es dahin werfen, 
wohin sie gehören!"“ 
Über die Stellung Rußlands zur Battenberg-Frage äußert 
sich das „Journal de St. Petersbourg“ vom 12. April: 
Es bespricht die Auslassungen einer ausländischen Korrespondenz, der 
Correspondance de l`Est, über die Battenbergische Angelegenheit, in welcher 
es heißt, daß man in St. Petersburg wisse, eine Heirat des Prinzen Ale- 
xander mit der Prinzessin Viktoria würde die Möglichkeit einer Billigung 
der bulgarischen Bestrebungen seitens Deutschlands ausschließen. Das Journal 
fährt fort, es wisse nicht, woher der Korrespondenz bekannt sei, was man 
in St. Petorsburg weiß, aber was gewiß sei, sei der Umstand, daß man 
aus der Geschichte nicht Tatsachen ausmerzen könne, man kenne die Ursachen, 
die dem Prinzen Alexander das Vertrauen seines erhabenen Protektors ent- 
zogen haben, man kenne ferner den schweren Tadel des Kaisers Wilhelm in 
Bezug auf jene Vorgänge, die abgesehen von dem Charakter der Undankbar- 
keit auch den Frieden Europas gefährdeten. Wer könnte behaupten, daß 
eine neue hohe Stellung des Battenbergers nicht den Gedanken einer Re- 
stauration unter den Häuptern der bulgarischen Revolution wachriefe, und 
daß trotz der gegenteiligen Behauptungen die Ruhe der Balkanländer und 
die friedlichen Beziehungen der Mächte nicht wieder in Frage gestellt werden 
würden? Wie ließen sich diese möglichen Folgen vereinigen mit dem Pro- 
 
	        
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