Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

6 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 24.) 
weit kann man den Wünschen der Bischöfe, ohne das Staatsinteresse zu ge- 
fährden, nachkommen? Die Wünsche der Bischöfe gingen im wesentlichen 
dahin, daß nicht eine Rente, sondern das Kapital der katholischen Kirche 
zurückgestellt werden möge, wogegen dann die Bischöfe die Verpflichtung 
übernähmen, diejenigen geschädigten Interessenten zu befriedigen, deren Be- 
friedigung überhaupt möglich sein würde. Zu diesem Behufe schlugen sie 
weiter vor, in jeder Diözese eine Kommission zu ernennen, die die Bischöfe 
zu unterstützen habe. Sie waren weiter der Meinung, daß der dann ver- 
bleibende Rest des Geldes der katholischen Kirche zu überweisen und zu Diö- 
zesanzwecken zu verwenden sei. Die Staatsregierung hat geglaubt, hierauf 
ohne Schädigung staatlicher Interessen eingehen zu können. Sie ist der 
Meinung, daß durch diesen Vorschlag die katholische Kirche befriedigt wird; 
sie ist weiter der Meinung, daß, wenn sie diesen Weg nicht selbst betreten 
konnte, weil sie verhindert wurde, das Odium auf sich zu nehmen, welches 
entstehen konnte — es ist ja darüber in der vorigen Sitzung gesprochen 
worden —, wenn die Staatsregierung den Versuch gemacht hätte, die Inter- 
essenten zu entschädigen, daß, wenn sie selbst dies Odium nicht auf sich nehmen 
konnte, es dankenswert war, wenn die Bischöfe den Versuch machen wollten, 
auf diese Weise den Ansprüchen der Interessenten gerecht zu werden. Es 
ist nicht unwahrscheinlich, daß auch nach der anderen Seite das Gesetz be- 
friedigen kann insofern, als diejenigen, welche im vorigen Jahre der Mei- 
nung waren, daß es nicht zulässig sei, der katholischen Kirche eine so große 
Summe an Kapital zuzuwenden, ihre Befriedigung finden werden, denn 
nach dem vorgeschlagenen Verfahren ist es nicht wahrscheinlich, daß noch ein 
großes Kapital zur Verwendung bleibt. 
Wenn ich das hohe Haus bitte, in eine wohlwollende Beratung dieses 
Entwurfs einzutreten, so will ich mir noch die Bemerkung gestatten, daß die 
Staatsregierung gleichzeitig den Wunsch gehabt hat, die evangelischen Defi- 
derien nach Stolgebühren zu befriedigen; es ist bis zur Stunde nicht mög- 
lich gewesen. Unter dem 21. Mai v. J. hat der Evangelische Ober-Kirchenrat 
einen Vorschlag gemacht, der dahin geht: 
Der Staat überweist jeder einzelnen Kirchengemeinde unmittelbar so 
viel, als nötig ist, um bei Aufbringung der durch die Aufhebung der 
Stolgebühren erforderlich werdenden Entschädigungsrenten für die be- 
rechtigten geistlichen und anderen Stellen die Beiträge der klassensteuer- 
freien und der zu den beiden untersten Klassensteuerstufen eingeschätzten 
Gemeindeglieder sowie die Mehrbelastung der übrigen Klassensteuerstufen 
und der Einkommensteuerpflichtigen über 4% ihrer Personalsteuer zu decken. 
Die Staatsregierung hat diesen Vorschlag in ernstliche Erwägung 
genommen und ist auf dem Wege, ihn auszuführen. Es sind dazu aber 
statistische Recherchen seitens des Finanzministeriums notwendig geworden, 
die sehr weit gehen. Wie Sie wissen, liegen die Verhältnisse anders in den 
sieben alten Provinzen, sie liegen anders in Rheinland-Westfalen, sie liegen 
anders in den neuen Provinzen, und es wird nicht möglich sein, während 
der jetzigen Sitzung einen Gesetzentwurf vorzulegen, um so weniger, als es 
voraussichtlich notwendig sein wird, zur Ausführung dieses Vorschlages im 
Herbst dieses Jahres zunächst die General-Synode zu hören und das kirch- 
liche Gesetz dem staatlichen Gesetz vorangehen zu lassen. 
Ich habe in der Presse die Bemerkung gefunden, daß die Staats- 
regierung, indem sie dem hohen Hause die Annahme dieses Gesetzvorschlages 
empfiehlt, wahrscheinlich ein Handelsgeschäft mit einer Partei dieses Hauses 
abgeschlossen hätte. Jch verwahre mich im Namen der Staatsregierung 
gegen eine solche Unterstellung. (Bravol) So lange ich die Ehre habe an 
der Spitze des Staatsministeriums zu stehen, glaube ich versichern zu können, 
 
	        
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