Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

18 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 3.—6.) 
etwas indirekteren, aber vielleicht noch schärferen Form von Herrn von Kar- 
dorff ausgesprochen ist, der aussprach, er könne jetzt nicht mehr sich für die 
Kolonialpolitik enthusiasmieren — ich weiß nicht, ob das der Ausdruck 
war —, früher hätte er es gethan; seit man aber Witu und das Protektorat 
über Sansibar aufgegeben habe, sei ihm die Sache nichts mehr wert. Das 
ist ein unendlich schwerer Vorwurf für die Regierung, wenn deren Verhalten 
so gewesen sein sollte, daß so patriotische Männer nicht mehr in der Lage 
sind, sich für einen so wesentlichen Zweig unseres öffentlichen Lebens zu inter- 
essieren. Und wenn die Regierung daran die Schuld trüge, so müßte sie 
allerdings sehr große Fehler gemacht haben. Ich werde versuchen, von 
meinem Standpunkt aus nachzuweisen, daß das nicht geschehen ist. Ich bin 
zu diesem Versuch umsomehr veranlaßt, als nach dem deutsch-englischen Ab- 
kommen ein thatsächlicher Entrüstungssturm durch die Presse ging gegen diese 
Regierung, für die kaum ein Attribut scharf genug war. 
Verzeihen Sie mir, wenn ich etwas weiter aushole und mit der Frage 
anfange: was fanden wir denn vor einem Jahre in Bezug auf Ost-Afrika 
vor? Wir fanden in Ost-Afrika zwei deutsche Schutzgebiete: Witu und das 
von der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft erworbene Ost-Afrika. Diese 
beiden Gebiete waren durch eine breite Zone anderen Gebiets voneinander 
getrennt. Unser eigenes Ost-Afrika gliederte sich in die 10 Seemeilen breite 
Küste, auf der die Flagge des Sultans von Sansibar unangefochten nach 
wie vor wehte. Es folgte dann das Schutzland, in dem die Ostafrikanische 
Gesellschaft einen gewissen Einfluß übte, und endlich die Interessensphäre. 
Dieser Interessensphären waren wieder zweierlei: einmal die anerkannt deutsche 
Interessensphäre, an die England keinen Anspruch machte, und dann die so- 
genannten strittigen Interessensphären, von denen eine im Norden und eine 
im Süden der anerkannten deutschen Interessensphäre lag. Im Lande war 
Kriegszustand: der Major von Wißmann, auf Grund der Vollmachten, die 
er bekommen hatte, suchte das Land zu pazifizieren. Handel und Wandel 
lagen darnieder, die sogenannten Städte, also die kleinen Anhäufungen von 
Wohnungen, die da existierten, waren zum größten Teil niedergebrannt. Ich 
glaube, es hatte bis dahin nur eine einzige Plantage den Anfang gemacht, 
zu existieren; sie existiert auch nicht mehr, und in Sansibar stritt sich deutscher 
und englischer Einfluß darum, wer heute oder morgen das Ohr des Sultans 
von Sansibar hätte. Das war ein Zustand, so schlimm, wie er nur sein 
konnte, der herbeigeführt war nicht durch ein Verschulden der früheren Re- 
gierung. Ich will auch der Ostafrikanischen Gesellschaft keinen Vorwurf 
machen. Es war ein Zustand, der sich ohne Zuthun unsererseits aus den 
Verhältnissen entwickelt hatte. Es mußte nun eine der ersten Fragen der 
Regierung sein: wie stellen wir uns den Dingen gegenüber? Schon unter 
meinem Amtsvorgänger waren Verhandlungen eingeleitet worden, die dahin 
gingen, mit England zu einem erträglichen modus vivendi zu kommen. Die 
Verhandlungen hatten aber noch nicht begonnen. Am 2. Mai v. J. gab 
Se. Majestät der Kaiser für die Verhandlungen der ostafrikanischen An- 
gelegenheiten im Immediatvertrage die Entscheidung, daß 
1. die für Kolonialzwecke verfügbar zu machenden Mittel in erster 
Linie auf Ost-Afrika zu verwenden sind; 
2. daß in den jetzt beginnenden Verhandlungen mit England auf 
Anerkennung der deutschen Ansprüche auf die strittigen Interessensphären, 
zunächst auf die nördliche, dann die südliche, hingewirkt werde, und daß im 
Notfall das Preisgeben von Wituland bis Kismaju, vorbehaltlich der Be- 
friedigung etwaiger berechtigter Ansprüche der dort interessierten Deutschen, 
als Kompensation zulässig sei;
	        
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