Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 28) 31 
tung die Ressortchefs wechselten und dabei verschiedene Systeme in Anwen- 
dung kämen, indem von dem Nachfolger das als unumgänglich notwendig 
bezeichnet werde, was der Vorgänger noch als eine „melancholische Auf- 
fassung“ betrachtet habe. Seine Partei glaube den Staat am besten zu 
erhalten, wenn sie sich selbständig so entscheide, wie es nach Pflicht und Ge- 
wissen ihrer Ansicht nach am besten für den Staat sei. Sie könne diese 
Summe nicht bewilligen, weil sie eine außerordentlich große und vor allen 
Dingen, weil das gewählte Mittel in seiner Wirkung mindestens so zweifel- 
hafter Natur sei, daß sie nicht glaube, damit im Interesse des Unteroffizier- 
standes zu handeln, dessen Tüchtigkeit zu erhalten sie mit der Regierung 
durchaus dasselbe Interesse jederzeit bekunde. (Lebhafter Beifall links.) 
Reichskanzler v. Caprivi: 
Dem Herrn Abg. Richter gegenüber habe ich zunächst in Bezug auf 
die Sozialdemokratie und die sozialdemokratische Frage zu bemerken, daß ich 
mich durch seine freundlichen Ratschläge, diese Frage lieber zu vermeiden, 
nicht abhalten lassen werde, bei jeder Gelegenheit darauf zurückzukommen; 
denn ich habe nun einmal die Ueberzeugung, daß das die Frage ist, die für 
das Ende dieses Jahrhunderts, vielleicht für Jahrzehnte des nächsten Jahr- 
hunderts die herrschende sein wird. (Sehr richtig! rechts.) Ich habe den 
aufrichtigen Wunsch, daß sie auf friedlichem Wege gelöst werden möge; ob 
der Wunsch aber erfüllbar sein wird, das vermag ich nicht vorherzusehen, 
und ich würde glauben, daß die verbündeten Regierungen, wenn sie nicht 
den Fall ins Auge faßten, daß die friedliche organische Lösung unmöglich 
wird, ihrer Pflicht nicht genügen würden. Ich muß auch gestehen, wenn 
man in der Notwendigkeit ist, sozialistische Bücher und Schriften zu lesen, 
namentlich solche, die nicht in Deutschland erschienen sind, solche, in denen 
die Theorie sich vollkommen entwickelt, man immer vor der Frage stehen 
bleibt, ob überhaupt ein Mensch glaubt, daß diese Dinge ohne Zerstörung 
des Staats zur Ausführung kommen könnten! (Sehr richtig! rechts.) Ich 
möchte also meinen, daß, wer solche Theorien vertritt, immer einen Kampf 
mit den bestehenden Verhältnissen voraussetzt, daß also auch die Regierung 
die Pflicht hat, sich auf solchen Kampf zuzuschneiden. (Bravo ! rechts.) 
Ich habe nicht die Besorgnis, daß, wenn man diese Sachen offen be- 
spricht, man dadurch die Gefahr, die in ihnen liegt, vergrößert. Der Herr 
Abg. Richter meint, daß, wenn vom Regierungstisch davon gesprochen wird, 
so mache das den Eindruck, als sei die Sozialdemokratie die einzige treibende 
Kraft im Staat oder Reich. Das ist meine Meinung nicht; aber ich halte 
sie zur Zeit für die größte Gefahr im Reich, und weil ich sie dafür halte, 
so glaube ich, eben die Kräfte zu ihrer Bekämpfung bei jeder neuen Ge- 
legenheit ausnützen zu müssen. Es wird, so lange ich die Ehre habe, an 
dieser Stelle zu stehen, kein Gesetz hier eingebracht werden, keine Maßregel 
vorgeschlagen werden, die nicht von dem Standpunkt geprüft worden ist: 
wie wirkt sie auf die sozialdemokratische Frage ein? Ich habe schon in dem 
anderen Hause mich in ähnlicher Weise geäußert, und ich kann von dieser 
meiner Auffassung nicht abgehen. Ich kann auch die Ansichten des Herrn 
Abg. Richter nicht teilen, daß, wenn die Regierung von sozialdemokratischen 
Dingen spricht, sie in Gefahr wäre, ihr Ansehen zu schädigen. Ich möchte 
glauben, daß man das vertrauensvoll der Fepiten Regierung überlassen kann, 
ihr Ansehen selbst wahrzunehmen. Jedenfalls würde ich in dieser Frage 
auf seine Unterstützung bereitwillig verzichten. (Bravo! rechts.) 
Der Herr Abgeordnete hat dann weiter davon gesprochen, ich hätte 
gestern gefagt, wir wollten den Unteroffizieren 1000 M geben, damit sie 
dafür stürben. Das ist mir nicht eingefallen; ich habe gesagt, wir wollen 
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